von Pavel Novotny, Slowakische Republik

Die Geschäfte mit halbleeren Regalen und langen Schlangen von wartenden Leuten. Die Straßen der Städte voll von Trabanten, Ladas und Oltciten. Zwangsfeiern am 1. Mai und Massen von verzückten Pionieren, den künftigen Kommunisten. Die „Befreiung“ der brüderlichen Tschechoslowakischen sozialistischen Republik während des Prager Frühlings im Jahre 1968 und der gemeinsame Boykott der Olympischen Spiele bei den „feindlichen Amerikanern“ in Los Angeles 1984. Genau so sah es vor ein paar Jahrzehnten in den Staaten Mittel- und Osteuropas aus. Von Leipzig über Bratislava bis nach Moskau. Heute sind diese „Errungenschaften der sozial gerechten Gesellschaft“ für die große Mehrheit der Leute nur eine schlechte Erinnerung. Sie haben jetzt ganz andere Sorgen. Es ist nicht leicht, sich dem immerfort beschleunigenden Lebenstempo anzupassen. Es ist wirklich schwer, in der Zeit der Konsumgesellschaft zu überleben.

Vom Fall der Berliner Mauer bis zum Euro

Anfang der Neunziger hatten alle Länder des ehemaligen Ost-Blocks an derselben Startlinie gestanden. Manche haben Rückenwind bekommen. Sie haben die anderen beträchtlich überholt. Zu diesen Ländern gehört die ehemalige Deutsche Demokratische Republik. Aber auch hier verlief die Wende nicht ohne Schmerzen. In die sechs neuen Bundesländer strömten jährlich 160 Milliarden Euro aus dem Westen. Trotzdem finden wir auch heute vielen Ossis, die sich mit „Ostalgie“ an die alten guten Zeiten erinnern. „Mein ganzes Leben habe ich in Ostberlin überlebt. Nach Westberlin bin ich zum ersten Mal nach dem Fall der Mauer gegangen. Ich muss zugeben, dass ich manchmal Sehnsucht nach allem habe.“ sagt mir vor dem Brandenburger Tor Dietmar, 50.

Andere Länder hatten nicht so viel Glück. Der Prozess der politischen Transformation ist bei ihnen an einen toten Punkt angekommen. Weißrussland geriet „dank“ des autoritären Regimes von Präsident Alexander Lukaschenko in die politische Isolation. Große Probleme hat auch die Ukraine. Die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens sind sogar in einen blutigen Bürgerkrieg gefallen. Die Mehrheit der Länder schreitet dennoch allmählich Hand in Hand gen Westen. NATO, Europäische Union, Schengen, Eurozone - so sieht der Reiseplan der postkommunistischen Länder aus. Die Mehrheit dieser Staaten will ihn erfolgreich bis zur Hälfte des zweiten Jahrzehntes beenden.

Kapitel Slowakei

Unter diese Länder gehört auch die Slowakei. Der kleine Staat unter der Hohen Tatra. Die Slowaken haben auf dem Weg nach Europa mit größeren Problemen kämpfen müssen, als ihre Nachbarn von Visegrad-Vier. Zuerst die Scheidung nach 74-jähriger Ehe mit den Tschechen, dann das Regime des kontroversen Premier Vladimir Meciars. Auf der Strecke nach Westen haben die Slowaken erst den Eintritt der rechts-zentristischen Regierung von Premier Mikulas Dzurinda ansgesteuert. Die versprochene Verdoppelung der Gehälter in vier Jahren der Legislaturperiode hat zwar nicht stattgefunden. Die Slowaken haben sich dennoch befreit aus der internationalen Isolation, in die sie während der eisernen Regierung Meciars gefallen sind. Plötzlich ging alles einigermaßen leicht. Indem Meciar und seine politischen Marionetten praktisch von keinem politischen Leader der Welt empfangen wurde, sein Nachfolger Dzurinda war dreimal im Weißen Haus beim amerikanischen Präsidenten George W. Bush. „Seinen Freund“ George hat Dzurinda unterstützt auch dann noch, als er die slowakischen Soldaten nach Afghanistan und in den Irak schickte. Als Belohnung waren die Amerikaner den Slowaken behilflich: Die Slowakei ist 2004 in die NATO eingetreten, wo ihre Nachbarn aus Tschechien, Ungarn und Polen schon seit fünf Jahren waren. Und im Mai 2004 hat die Mehrheit der mitteleuropäischen Staaten die Reihen der Europäischen Union vergrößert, darunter auch die Slowakei.

Das Rennen setzt sich fort

Das beste Beispiel der mitteleuropäischen Gegenwart ist Berlin. Die während Jahrzehnten geteilte Stadt hat heute den Anschein eines Minieuropas. Die Mauer ist nicht mehr da, aber es ist relativ einfach zu erkennen, wo man ist. Der Großteil der Neubauten konzentriert sich auf den Ostteil. Viele Viertel sehen aus, wie eine große Baustelle. Moderne Komplexe auf dem Potsdamer Platz haben in Westberlin keine Ähnlichkeit. Und das geschieht in ganz Ostdeutschland. Die westlichen Betriebe investierten Hundertmilliarden Euro in den Osten.

Die Länder Mittel- und Osteuropas erlebten in den letzten Jahren einen beispiellosen Boom. Die günstigen Steuerbedingungen und billige Arbeitskraft haben Tausende von westlichen Investoren in den Osten gezogen. Aber nicht ein Betrieb hat das Kernstück seiner Aktivitäten in den ehemaligen Sowjetblock verschoben. Das beste Beispiel ist das deutsche Automobilwerk Volkswagen. Es hat die tschechische Marke Skoda gekauft und ein großes Werk in Bratislava aufgebaut. Heutzutage gibt Volkswagen tausenden Leuten aus der ganzen Slowakei Arbeit. Und dieses Jahr kam aus der Bratislavaer Fertigungsstrasse der zwei Millionste Volkswagen.

Das Ergebnis ist die Stärkung der slowakischen Krone um eine Drittel. Derweil die Slowaken vor ein paar Jahren 47 Kronen für ein Euro ausgeben mussten, sind es heute 33 Kronen. Die Gehälter wachsen sehr schnell, entsprechend dem steigenden Bruttoinlandsprodukt. Im zweiten Vierteljahr 2007 ist die slowakische Wirtschaft am schnellsten in Europa gewachsen – um 9,4 Prozent. In Deutschland und in der Eurozone war das Wachstum nur 2,5 Prozent. Die osteuropäischen Wirtschaften holen den Vorsprung der westlichen Länder sehr rasch ein. Ein gutes Beispiel sind die Tschechen. Indem die Leistungskraft ihrer Ökonomie vor ein paar Jahren nur 40 Prozent des Westens war, im Jahr 2007 sind es schon 80 Prozent. Und das Rennen setzt sich fort.

Quo vadis, Mitteleuropa?

Die Slowakei ist keine Ausnahme. In Bratislava investieren Iren, Spanier, Briten. Die modernen Komplexe und Luxusresidenzen wachsen wie die Pilze aus dem Boden. Das hat aber auch negative Seiten. Die Interessen der Investoren werden sehr oft stärker vertreten als die der Bürger und der Umweltorganisationen. Das Resultat stimmt nicht sehr freudig. Die Wolkenkratzer steigen auch dort in die Höhe, wo früher Parks, Schulen oder Sportplätze waren.

Noch eine negative Konsequenz hat diese Entwicklung. Die Preise der Immobilien wachsen in astronomische Höhen. In Bratislava sind es durchschnittlich 20 Prozent pro Jahr. Vor sechs Jahren konnten die Leute eine Dreizimmerwohnung im Plattenwohngebiet für ca. 30.000 Euro haben, heute ist fast unmöglich, dieselbe Wohnung für weniger als 80.000 Euro zu kriegen.

Manche Projekte in Bratislava sind viel teurer als im Zentrum von Wien. Ein Quadratmeter in den Luxuswohnungen auf dem Donauufer kostet 5000 Euro. Die Wohnungen in Neubauten sind dabei schon lange vor dem Bauabschluss total ausverkauft. Die Mehrheit von ihnen bleibt trotzdem leer stehen. Die Wohnungen kaufen nämlich große Immobilienfonds aus England und Irland, die sie in ein paar Jahre wieder auf dem Markt verkaufen. Und weil es viele Wohnungen zu mieten gibt, haben die Luxusresidenzen fast keine Chance einen Mieter zu finden.

Solch ein Drehbuch findet jetzt in fast allen mitteleuropäischen Ländern statt. Man baut überall und alles – Autobahnen, Mehrzweckobjekte, große Warenhäuser. Nach Osten expandieren große Ketten, fast jede Stadt hat ihren Tesco, Lidl, Kaufland und Hypernova.

Es ist sicher, dass die neuen Mitglieder der EU Länder die Wirtschaft der alten Mitglieder schon in ein paar Jahren überholen. Bratislava oder Prag erreichen schon jetzt 120 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftsleistungskraft der Europäischen Union. Die Vereinigung Europas wird aber höchstwahrscheinlich ein bisschen länger dauern. Bei vielen Leuten auf den beiden Seiten des ehemaligen eisernen Vorhangs nämlich sind Barrieren und Vorurteile geblieben. Europa braucht noch Zeit, damit es wirklich wieder einheitlich wird.


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