von Gabor Rozsnyai, Ungarn

“... Wir haben keine Wahl. Und zwar, weil wir es versaut haben. Nicht ein bisschen, sondern sehr sogar. In Europa hat kein Land so einen Unfug getrieben wie wir. Es mag dafür eine Erklärung geben. Wir haben offensichtlich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahr von Anfang bis Ende gelogen. ...Man muss nicht deswegen Politiker sein, weil man davon super leben kann - wir haben schon vergessen, wie es ist, Autopolierer zu sein -, sondern weil wir diese Probleme lösen wollen... ...Die ersten paar Jahre werden furchtbar sein, sicher. Es ist völlig uninteressant, dass nur 20 Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden. Was wäre, wenn wir unsere Popularität nicht deswegen verlieren, weil wir Arschlöcher sind, sondern weil wir große gesellschaftliche Aufgaben vollbringen wollen? Es ist kein Problem, wenn wir dann für einige Zeit unsere Popularität in der Gesellschaft verlieren. Wir werden sie dann eben wieder zurückgewinnen. Weil sie es einmal verstehen werden.“

Die Rede des ungarischen Regierungschefs im Mai 2006 verursachte einen Sturm der Entrüstung, eine Regierungskrise und gewalttätige Ausschreitungen in Budapest. Der Regierungschef hingegen nennt die Proteste einen Angriff auf die Republik und denkt nicht an Rücktritt.

Das Band, mit der Rede des Ministerpräsidenten - im Mai auf einer internen Fraktionssitzung am Balaton - löste die Krise aus. Die Bewertungen der heftigen Aussagen schwanken zwischen „Lügner” und „Held” - abhängig davon auf welcher Seite man steht. Die Konsequenzen sind bis heute spürbar.

Früher: Im Mai 2006 haben die Parlamentswahlen in Ungarn stattgefunden, und zwar mit dem Ergebnis, das bisher niemand erreichen konnte: die regierenden Parteien haben die Wahlen gewonnen und konnten an der Macht bleiben. Was das Volk damals nicht wusste: es gab schon damals ein Haushaltsdefizit von zehn (!) Prozent, dass größte überhaupt in Europa. Das Geld floss in den sozialen Aufbau und Autobahnbau. Bei den Wahlen waren sich alle Parteien einig: noch höhere Ausgaben, damit es allen besser geht, obwohl man wusste, dass es so nicht weitergehen kann.

Nachdem die Wahlen von den Sozialisten mit Ferenc Gyurcsany gewonnen worden waren, folgte die Rede von Öszöd. Er hat in einer internen Sitzung der Sozialisten, der größten Regierungspartei, zugegeben, dass Ungarn finanziell in einer Krise sei, es müsse schnell etwas getan werden. Er hat es sehr radikal formuliert, weil es sein eigentliches Ziel war, die Anwesenden zu schockieren. Er hat nicht damit gerechnet, dass die komplette Rede aufgezeichnet werden wird, und an die Öffentlichkeit gelangt. Man weiß bis heute nicht, wer die Rede veröffentlicht hat.

Die Empörung war groß: nicht weil es darum ging, schwierige Entscheidungen zu treffen, die Lebenshaltungskosten zu erhöhen und das Einkommensniveau zumindest vorübergehend zu senken, sondern, weil die Wahlen durch diese Aussagen „gefälscht“ wurden. Hätte man die Wahrheit gewusst, wäre wahrscheinlich die Koalition aus Sozialisten und Liberalen nicht wiedergewählt worden.

Gyurcsany war fest entschlossen, die nötigen Reformen durchzusetzen, und hat tatsächlich sofort mit der Umsetzung begonnen. Wenige Monate später standen die Kommunalwahlen vor der Tür, und er war sich bewusst, dass man mit solch schweren Maßnahmen die Wahlen nicht gewinnen konnte. Der Druck von den Sozialisten war sehr groß – aber es gab keine Zeit für eine Verzögerung.

Am 1. Oktober wurden wie alle vier Jahre die Selbstverwaltungen der über 3.200 Kommunen des Landes sowie die Bürgermeister gewählt. Diese Routinewahl führte jedoch seitens der Opposition zu einem immer radikaleren Kampf gegen die regierenden Linksliberalen. - Fidesz-Chef Viktor Orbán stilisierte die Kommunalwahlen zur entscheidenden Schlacht nach den zwei Runden, der durch die Bürgerlichen zum zweiten Mal verlorenen Parlamentswahlen vom April.

Die Ergebnisse: fast das ganze Land färbte sich orange, die Farbe der Oppositionspartei Fidesz. Nach dem Wahlsieg für Orbán, der die Kommunalwahlen ohne verfassungsrechtliche Grundlage zu einer Art Volksabstimmung stilisiert hatte, musste die Regierung zurücktreten. Die Parlamentsparteien hatten die Aufgabe, eine provisorische Regierung aus parteilosen Experten zu bilden. Rechtsexperten wiesen darauf hin, dass diese Vorgehensweise keinerlei Legitimität besaß.

Orbán wollte nach dem Sieg bei den Kommunalwahlen mit dem Druck der Straße Neuwahlen erzwingen. Er hat das Budget des Stabilisierungsprogramms der Gyurcsány-Regierung für Null und nichtig erklärt. Doch ist die internationale Finanzwelt der Meinung, dass die gegenwärtige Regierung das kleinere Übel sei: Gyurcsány habe zumindest einen Sanierungsplan und scheine entschlossen diesen durchzusetzen. Das sollte er tun und dann seinen Hut nehmen. Oder bis 2010 durchhalten, und sich und seine Partei zur Wahl stellen.

Inzwischen wurden die vormals friedlichen Demonstrationen immer gewalttätiger, immer radikalere Töne, immer mehr Postfaschisten, antisemitische Parolen, und Aufrufe zur Gewalt.

Als Höhepunkt war es in der Nacht des 19. Oktober zu den schwersten Unruhen seit Jahrzehnten gekommen. Demonstranten, die gegen die ungarische Regierung protestierten, stürmten das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und erzwangen den Abbruch des Sendebetriebs. Zuvor hatten sie sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert und mehrere Fahrzeuge, darunter einen Wasserwerfer, in Brand gesteckt. Steine und Brandsätze wurden gegen das Fernsehgebäude geworfen. Rund 150 Menschen wurden nach Angaben des ungarischen Rettungsdienstes verletzt, drei von ihnen schwer.

„Ich bleibe und ich mache meine Arbeit“, sagte Gyurcsány am nächsten Tag. Er fühlte sich seinem Programm der „finanzpolitischen Anpassungen und Reformen“ verpflichtet. Auch wenn das für die Menschen sehr schwierig sei, „es ist die einzige Richtung für Ungarn“. Die Regierungsparteien stünden hinter seinem Kurs, sagte er. Die Proteste in Budapest verurteilte er als Vandalismus. Die Demonstranten hätten nicht das Recht, „den Landesfrieden zu stören“. Er bezeichnete die Ausschreitungen als einen „Angriff auf die Republik“. Das Land blicke auf die „längste und dunkelste Nacht“ der jüngsten Geschichte zurück.

Aber damit war es nicht vorbei: 24 Stunden nach der Stürmung des ungarischen Fernsehens ist es in Budapest erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Sicherheitskräfte vertrieben unter Einsatz von Tränengas hunderte Demonstranten vor dem Parteigebäude der regierenden Ungarischen Sozialisten.

Zurück in die Gegenwart: Das Land ist vollständig gespalten, es gibt keine Demonstrationen mehr – man sagt die Luft ist raus, - aber man redet nicht mehr miteinander, auf großer und kleiner Ebene. Die nötigsten Reformen haben schon begonnen, aber mit starkem Gegenwind. Die Opposition weiß ganz genau, dass die Reformen gemacht werden müssen, nutzt dabei aber jede Gelegenheit sich mit Querschüssen zu profilieren. Die Nachrichten aus Ungarn belegen, dass es in Budapest immer wieder zu Demonstrationen kommt, allerdings friedlichen.

Wie geht es weiter? Ja, das möchte ich auch gern wissen. Eines ist sicher. Wenn man mehr als 100.000 Unterschriften zu einer bestimmten Frage gesammelt hat, muss das Parlamnt eine Volksabstimmung ausschreiben. Zur Zeit sieht es so aus, als könnte das im nächsten Jahr passieren und zwar gleich mit sieben Fragen. Alle sind gegen den Reformplan von Gyurcsany.

Die Opposition behauptet schon im Voraus: Gyurcsány sei moralisch tot und für den Fall, dass er die Volksabstimmung verliert, muss er zurücktreten. Es soll zu einer provisorischen Regierung kommen, selbstverständlich mit Neuwahlen.

Demokratie und Politik funktionieren ohne heftige Debatten und Diskussionen nicht. Was man nicht mag sind anhaltende Spannungen: Politik und die schlechte Stimmung beeinflussen das alltägliche Leben, viele Freundschaften wurden beendet, und in manchen Fällen reden sogar Familienmitglieder nicht mehr miteinander.

Wir hatten 1990 vor und nach den ersten freien Wahlen viele Illusionen, und Hoffnungen. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber es dauert noch ein wenig bis Ungarn ein ruhiges, wohlhabendes, langweiliges Land wird.


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