von Zviad Mikeladze, Georgien

Ich musste zurückkehren . . . Nach einem über einjährigen Aufenthalt in Deutschland hatte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, dass ich unbedingt nach Georgien fahren muss. Der Krieg hat mich angezogen, obwohl ich früher niemals eine Waffe in den Händen gehalten habe.

Ich spazierte allein durch die ostdeutschen Städte Potsdam, Leipzig, Dresden. Es waren meine letzten Tage in Deutschland und wollte ich mich damit von diesem Land verabschieden. Aber meine Familienangehörigen, die früher auf mich warteten und fast jeden Tag anriefen um zu wissen, wann wir uns wiedersehen werden, baten mich diesmal keinesfalls schnell in das Heimatland zurückzukommen. Es war für mich ein bisschen komisch und auch erniedrigend, beide Gefühle verschärften meinen Wunsch zurückzukehren.

Interessanterweise wurde eine Woche vorher ein Dokumentarfilm von mir über die Wiedervereinigung Deutschlands beendet. Zwei deutsche Personen aus West und Ost erzählen über Ihre persönlichen Erfahrungen bei der Bewältigung der Lebensgefahren, die von ihren Staatssystemen verursacht worden waren. Für sie war ich ein Ausländer und ich vermute, dass sie mir deswegen aufrichtig ihre Schwierigkeiten geklagt haben. Das geteilte Land, die geteilten Familien, Opfer an den Grenzen und die ständige Gefahr vor dem Krieg, das war ihr Leben in Ost- und Westdeutschland. Aber für mich blieb es ein neutrales Thema, woran ich nur als Regisseur arbeitete, ich hatte keinen Bezug dazu im realen Leben.

Der Krieg hat in mir die besonders starke Wahrnehmung des Lebens hervorgerufen und das zwang mich, die Gefahr möglicherweise in der Nähe erfahren zu wollen. Die Stimmen und Körper der Menschen, oder z.B. das Bellen der Hunde, erschien für mich irgendwie verdoppelt, als ob die Luft zum Atmen nicht ausreichend für mich wäre. Der Abschied von beiden Deutschen war emotional. Niemand wusste, wie der Krieg weiter ablaufen würde, deshalb war ich für sie vielleicht wie ein Opfer, das man im Voraus beweint. Der Ostdeutsche, der stark gläubig war, hat mich sogar an der Tür festgehalten und um mich und um mein Land gebetet. Aber auch der Westdeutsche, der nicht gläubig war, hat mich in besonderer Weise verabschiedet.

Ich habe mich ins Flugzeug gesetzt und in meinem Kopf bohrte diese Hysterie, die gestrige und die zukünftige. Allerdings erwarteten die Passagiere auch (ein bisschen) eine "zufällige" Bombe. Ich war bereits in der Kriegsrealität angekommen und habe vorgehabt meinerseits ein interessantes Spiel durchzuführen. Früh morgens sah der Flughafen von Tbilissi wie ein Friedhof aus, obwohl die Umgebung beleuchtet war. Ich sah Menschen und konnte sie nicht erkennen, als ob ich in ein anderes Land hineingeraten wäre. Ich war voll mit Gedanken und Emotionen, aber die waren völlig entladen. Es dauerte einige Tage an. Ich fühlte mich ganz verfremdet und habe ein schreckliches Gefühl in mir entdeckt - die Enttäuschung von der eigenen Nation.

Dann traf ich mich mit meinem ehemaligen Lehrer zu Hause. Er sah ganz schwach und nervös aus. Er hat mir gesagt: "Jetzt habe ich geglaubt, dass sie uns in einem Tag zerdrücken können. Nach drei Tagen bin ich genauso müde und leblos geworden, wie die anderen, wie vergiftet."

Die Situation hat sich plötzlich verändert. Am 15. August hat unsere Regierung erklärt, dass Georgien im Krieg gegen Russland gewonnen habe. Und die Bevölkerung wurde gleich lebhaft. Sie feierte in den Straßen. Sie veranstaltete große Demonstrationen mit Ausrufen: "Wir haben den größten Staat der Welt besiegt. Wir sind Gewinner!" Das Volk feierte die Folgen des Krieges, aber ich blieb wie vergiftet und konnte nicht feiern. Ich habe bemerkt, wie die Regierung sein Volk täuschen kann. Ich war ein Zeuge, der das Privileg hatte, diese seltene Erscheinung zu sehen: Das Volk feierte mit seiner Regierung den verlorenen Krieg. Die führenden Politiker haben es später genau so erläutert: Ja, wir haben die Territorien verloren, aber die Regierung, die für Russland feindlich ist, gewinnt wieder die Macht.

Wo könnte man Beistand finden? Ich dachte, niemand ist für mein Land, sogar seine eigene Regierung nicht. Alle wollen uns belügen und es war schrecklich, dass diese Lüge auch für die Leute annehmbar erschien. Georgien blieb wieder allein. Russland beschuldigte uns, dass wir einen Genozid gegen die Osseten und früher gegen die Abchasen durchgeführt haben. Wäre es vielleicht primitiv von mir hier mein Land zu rechtfertigen, zumindest weil es sehr subjektiv wäre. Aber man sagt auch, dass man die Wahrheit nicht zum Schweigen bringen kann, die Wahrheit ist lauter.

Für die Statistik: In Georgien gibt es circa 500 Tausend Verfolgte aus Abchasien und dem so genannten Südossetien (Schida Kartli). Man muss Kriterien zur Lösung des Konflikts definieren, z.B. muss die legitime Bevölkerung eines Gebietes die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, wie sie und mit wem sie leben möchte. Über 70 Prozent der Bevölkerung wurden von Russland aus Abchasien und aus dem so genannten Südossetien verbannt. Entsteht vielleicht die Frage, warum diese Leute nicht an den Entscheidungen der politischen Prozesse teilnehmen dürfen? In Abchasien wurde vor zehn Jahren das Referendum um die Unabhängigkeit durchgeführt, aber wie kann die Minderheit statt eine Mehrheit eine solche Entscheidung treffen?

Natürlich bin ich mit meinen Deutschen Freunden in Kontakt geblieben. Sie interessierten sich immer über die politische Situation in meinem Land. Der Ostdeutsche belehrte mich wieder, dass die Rettung in Christus liegt. "Keine Gewalt! haben wir gerufen und der Gott hat uns geholfen", sagte er. Der zweite Deutsche schickte mir seine Fotokollage vom Checkpoint-Charlie, wo jetzt statt bewaffnete Soldaten nur Schauspieler stehen, mit denen man nur Spaß haben kann.

Zur Zeit sieht die Situation im Kaukasus leider nicht spaßig aus. Es gibt viele Konfliktzonen sowohl im Süd- als auch im Nordkaukasus. Viele kleine kaukasische Völker, die eigentlich herkömmliche Verwandte sind, sprechen entweder nicht miteinander, oder schießen sogar auf einander. Sehr groß ist der Einfluss von allen Seiten der Welt. Russland, die USA, die Türkei und der Iran wollen in dieser Region einen Platzdarm für ihre Politik schaffen, um binnen kürzester Zeit wieder Ordnung zu schaffen. Die kleinen kaukasischen Völker können eigentlich keine Entscheidungen selbst treffen, sie können sich nicht selbst verteidigen. Sie sind gezwungen einen großen Staat als Beschützer zu suchen. Zwischen uns und Abchasien versucht Russland eine neue Mauer zu erheben, ähnlich wie in Berlin. Es werden auch Checkpoints entstehen, um zu kontrollieren, wer in die georgische oder abchasische Zone eintreten darf und wer nicht. An beiden Seiten stehen bewaffnete Armeen, aber es gibt keine modernen georgischen, abchasischen oder ossetischen Waffen. Die einen halten russische Waffen und die anderen amerikanische Waffen in der Hand und die Mauer wird eigentlich nicht zwischen kleinen kaukasischen Völkern entstehen, sondern zwischen großen Weltmächten.

Man prognostiziert, dass die Zukunft in dieser Region noch schwieriger wird, aber als ein Beispiel habe ich selbst schon die Berliner Mauer gesehen, die gefallen ist. Der Titel meines deutschen Filmes lautet "Zwei Staaten, zwei Personen". In diesem Film gibt es auch eine Episode, wo der ostdeutsche Mann an der Grenze von Nord- zu Südkorea ein Denkmal mit der Gestalt von zwei Frauen aufgenommen hat. Es symbolisiert zwei koreanische Frauen, aus dem Norden und dem Süden.

Und vielleicht kommt irgendwann die Zeit, wenn ich, oder ein anderer Regisseur einen Film über die zerstörte Mauer in Georgien machen wird, beispielsweise mit dem Titel "Drei Staaten, drei Personen". Aber dieser Film soll nicht unbedingt die politische Wiedervereinigung von Georgien ausdrücken (in einem patriotischen Sinn), sondern soll vielleicht auf eine Frage die Antwort geben: Und was dann?


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