von Kristina Baxanova, Bulgarien

Der 42-jährige Fahrer Milko Michalew wohnt in einem kleinen Dorf in Nord-Bulgarien. Im Juni 2011 bekam er Herzschmerzen. Milko wurde einer Koronarangiographie in einer Klinik in der Stadt Varna unterzogen. Eine Woche später stand sein Name in den Schlagzeilen aller bulgarischen Medien, weil wegen einer falschen Behandlung nach der Koronarangiographie die Hand des Fahrers amputiert wurde.

Diese Geschichte ist ein Vorbild der Folgen von ungelösten Problemen im Gesundheitssystem in Bulgarien. Mehr als zehn Jahre musste die Gesundheitsreform im Land unter dem Motto: „Der Patient steht im Mittelpunkt des Gesundheitssystems!“ durchgeführt werden. In den letzten zehn Jahren hat die Regierung dreimal gewechselt, aber alle sind an dieser Herausforderung gescheitert.

In den 90er Jahren steckte das sozialistische Gesundheitssystem „Semaschko“ in einer tiefen Krise. Die Bedürfnisse von Patienten und Ärzten waren nicht mehr erfüllbar, weswegen im Jahre 1999 ein ganz neues Krankenversicherungsmodell mit neuen Regeln eingeführt wurde. Eine Krankenkasse wurde gegründet. Der Patient bekam ein Recht auf freie Arztwahl.

„Der Patient muss im Mittelpunkt sein!“, hat der ehemalige Gesundheitsminister Ilko Semerdjiew im Jahr 1999 verkündet. Über zehn Jahre später zählt man die Unterlassungen und die Fehler, deren Preis die Gesellschaft bis heute noch zahlt.

Gesundheitsreform – heikle politische Frage oder Flirt mit den Medien?

Seit dem Jahr 2000 stellte jede Regierung eine Gesundheitsreformstrategie vor, die nie erfüllt und beendet werden konnte. Jahrelang gab es wegen den politischen Gegenüberstellungen keine Nachfolgerschaft, keine allgemeine Übereinstimmung wie die Gesundheitsreform aussehen muss.

Gesundheitsminister wurden schnell gewechselt. Nach der Wende hielt niemand von ihnen seinen Posten eine ganze Legislaturperiode lang. Der regierende Premierminister Boiko Borisov hat schon einen Präzedenzfall geschaffen. In zwei Jahren hat er drei Gesundheitsminister gewechselt.

Der erste, Dr. Bozhidar Nanew, Vorsitzender des Ärzteverbands, hielt den Posten nur acht Monate. Er sollte seinen Rücktritt nach dem Verdacht des Missbrauchs von sechs Millionen Euro einreichen. Die Summe wurde für den Kauf des Arzneimittels Tamiflu während der Zeit der Schweinegrippe gezahlt. Dr. Nanew wurde angeklagt, dass er den Vertrag auf einen höheren Preis abgeschlossen hat. Der Prozess ist noch nicht beendet. Aber es gibt auch einen anderen unausgesprochenen Wechselgrund – es war Dr. Nanew schwer gefallen, die heiklen Reformschritte klar in der Öffentlichkeit und in den Medien vorzustellen.

Die zweite Gesundheitsministerin Prof. Anna-Maria Borissowa war nur sechs Monate im Amt. Von Anfang an war ihr Umgang mit den Medien schwierig. Prof. Borissowa weigerte sich, auf scharfe Fragen zu antworten. Sie musste den Posten abgeben, weil sie in einem Fernsehinterview unpopuläre Maßnahmen ankündigte, ohne eine Regierungszustimmung zu haben. Unverzeihlicher Fehler? Nur ein Anlass, der nach monatelanger Kritik der Medien kam.

Der letzte, Dr. Stefan Konstantinov, ist schon ein Jahr im Dienst und scheint beliebt zu sein, aber um beliebt zu bleiben, muss er das Nervenspiel bis zum Ende führen.

Geht es immer ums Geld?

Der Mangel an einer langfristigen Strategie und an politischem Mut, schwierige Entscheidungen zu treffen, falsche Verteilung der Kosten und die Vielfalt von wirtschaftlichen und politischen Interessen führen zur Blüte der Korruption, Schwarzgeldkassen bei Behandlung der Patienten und zur Demotivation der Ärzte, die immer mehr ins Ausland abwandern. All diese Themen stehen ständig im Spiegel der Medien in Bulgarien.

2008 wurde eine Studie des Open Society Institute veröffentlicht, die besagt, dass jedes Jahr 75 Millionen Leva (34,5 Mio. Euro) als Schwarzgeld im Gesundheitssystem verschwinden. Patienten müssen für eine Behandlung immer bezahlen, obwohl sie versichert sind. Wer zahlt, der bekommt bessere Betreuung und kommt schnell aus Wartelisten heraus. Eine Studie der WHO von 2009 zeigt, dass die Patienten in Bulgarien die Hälfte der Behandlung extra bezahlen. Diese Nebenkosten von 150 bis 2.000 Euro sind für die Arztwahl, für bestimmte Anästhesie, Untersuchungen, Einzelzimmer im Krankenhaus usw.

„Dieser Beruf, der zur Rettung des Menschenlebens gedacht ist, hat sich zum Geschäft verwandelt. Alles dreht sich immer ums Geld.“, sagt Nadezda Ivanova. Nach einer schweren Brustkrebsoperation musste die Frau 450 Euro extra für die Arztwahl bezahlen, aber ohne einen Arzt gewählt zu haben. Im Januar 2011 hat sie ihre Geschichte vor der bTV Kamera erzählt. Danach sind in den Medien ähnliche Beiträge über Missbräuche, Betrug und Korruption im Gesundheitssystem erschienen. Die Patienten sprachen über ihren Vertrauensverlust in Ärzte.

Einen Monat später hat der Gesundheitsminister Dr. Stefan Konstantinov die Preisgrenze für Extrakosten bei verschiedenen Behandlungen bestimmt. Der Preis darf nicht höher als 500 Euro sein – eine Nachricht, die Schlagzeile in den Medien war, von Patienten gut aufgenommen wurde, aber nicht von den Ärzten.

Die Folgen der Geldknappheit im System

2011 betragen sich die Ausgaben für das Gesundheitssystem auf 712 Millionen Leva (rund 356 Mio. Euro). Die Kosten betragen nur 4,3 Prozent vom BIP. Dies ist zu wenig, um die Bedürfnisse des Systems zu erfüllen und wird sogar von einer falschen Aufgliederung begleitet.

Die Krankenkasse bezahlt ungefähr 75 Prozent der Kosten einer Behandlung oder Operation. Um keine Schulden entstehen zu lassen, verlangen die Kliniken eine Zuzahlung des Patienten. So befinden sich Patienten und Ärzte in einer Pattsituation.

Wegen der niedrigen Bezahlung (zwischen 300 und 400 Euro pro Monat), veralteter Ausstattung in Krankenhäusern, aber auch wegen Korruption und Druck am Arbeitsplatz suchen immer mehr Mediziner einen neuen Arbeitsplatz im Ausland. 2010 wanderten 500 Ärzte aus. 2011 wird diese Zahl auf 1.000 steigen, teilte der Vorsitzende des Bulgarischen Ärzteverbandes mit.

In den letzten Monaten sind die Mediziner auch mit den journalistischen Beiträgen unzufrieden, die öfter über Fehler, Behandlungsablehnungen und Korruption im Gesundheitssystem berichten. Diese Beiträge wurden als Grund für das verlorene Vertrauen der Patienten gesehen, obwohl sie selbst von Patienten erzählt wurden.

Wer wird gewinnen?

Die Spannung brach aus, als vier Ärzte vom Krankenhaus in Gorna Orjahoviza für 24 Stunden verhaftet wurden. Sie standen im Verdacht eines Babymordes. Das Baby wurde im fünften Monat von einer 17-jährigen Mutter geboren. Polizisten hörten Telefongespräche unter Ärzten ab und behaupteten, dass das Baby nach diesen Gesprächen noch lebendig war, aber keine Hilfe bekam. Die medizinische Expertise hat ganz anderes bewiesen – das Baby wurde tot geboren. Der Fall entwickelte sich zu einem politischen Skandal. Der Innenminister Zwetan Zwetanow musste zu diesem Thema vor den Abgeordneten aussagen und erklären, warum Polizisten private Gespräche von Ärzten abgehört hatten. Der Streit führt weiter zu Vertrauensverlust und hetzt weiter Politiker, Ärzte und Medien gegeneinander auf.

Einige Monate später kam der Fall von Milko Michalew. Die Ermittlungen bestätigen, dass der Fahrer ganz falsch behandelt wurde. Sogar die Koronarangiographie war nicht nötig, wurde aber gemacht, damit die Klinik Geld von der Krankenkasse bekam. Die Klinik wurde finanziell bestraft, aber Milko Michalew kann seinen Beruf als Fahrer nicht mehr ausüben.


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