von Gábor Márk Ladiszlai, Ungarn

„Zimmer frei“ – Das Goldene Zeitalter

Ein „Zimmer frei“ Schild auf jeder Hauswand, tausende Menschen am Strand und mehr deutsche Wörter als ungarisch. So erinnere ich mich an meine Kindheit am Plattensee. Ein Ort in Ungarn, wo sich alle schon im Frühling auf die Saison vorbereiteten, weil bald die Deutschen kommen würden. Für drei Monate zog fast jede am Plattensee lebende Familie in ein kleines Zimmer um, oder im besten Fall zur Großmutter. Als Kind erlebte ich in meiner Heimatstadt Siófok auch solche Sommer mit. Es war eine alle Jahre wiederkehrende Periode, wenn sich eine Stadt mit kaum 25.000 Einwohnern in eine Großstadt mit 300.000 Menschen verwandelte.

Der Balaton – der größte See Mitteleuropas – konnte alles anbieten, was in einem sozialistischen Land gewünscht und möglich war. Günstige Hotels, Restaurants und natürlich, Gastfreundlichkeit. Fast jede, am Plattensee wohnende ungarische Familie hatte einen österreichischen, polnischen, ost-, oder westdeutschen Freund, der den Urlaub fast jeden Sommer am See verbrachte. Ab den sechziger Jahren kamen die Touristen sowohl von Osten und Westen. Die Zahl der Gäste stieg von Jahr zu Jahr. In der Zwischenzeit entwickelte sich auch die Region. Es war ein goldenes Zeitalter für die Menschen, die dort lebten. Rundum den Balaton wurde eine bessere Infrastruktur gebaut und die westeuropäischen Touristen brachten die Illusion von Freiheit mit.

Es galt nicht nur für uns, die dort lebten. Im sozialistischen Zeitalter konnten die DDR-Bürger ausschließlich in die Ostblockstaaten reisen. Ohne Zweifel war Ungarn „die lustigste Baracke“, die beste Option. Die ungarischen Behörden waren toleranter als die tschechoslowakischen oder polnischen. Darüber hinaus war die Qualität und der Service ziemlich gut, zumindest im Vergleich zu den sozialistischen Bedingungen. Doch der größte Vorteil war die Tatsache, dass der Plattensee auch bei den westlichen Touristen beliebt war. Der See war ein idealer Ort für die Wiedervereinigung der voneinander getrennten ost- und westdeutschen Familien. Für die meisten von ihnen war es die einzige Möglichkeit um sich zu treffen und Ideen auszutauschen.

Die gastfreundschaftlichen Ungarn wollten diese wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten nutzen. Für eine kurze Periode profitierte die Bevölkerung des Plattensees sehr stark davon. In den siebziger und achtziger Jahren baute oder kaufte jeder der konnte ein Haus am See um es später vermieten zu können. Heute ist es offensichtlich, dass diese radikale Veränderung viele Schattenseiten hatte. Die Mehrheit der privaten Häuser wurde illegal oder nicht nach offiziellem Plan gebaut. Dass heißt, die sozialistischen Stadträte ermöglichten damals nur die Errichtung von kleinen Einfamilien- und Wochenendhäusern. Die Besitzer wollten aber diese Gebäude vermieten und deshalb wurden die Baupläne meistens geändert. Am Ende wurden die Häuser mit mehreren Zimmern gebaut, also garantiert besser als ein ungarischer sozialistischer Arbeiter nach der kommunistischen Philosophie leben sollte. Diese unkontrollierten Bauarbeiten hatten viele negative Konsequenzen. Viele Häuser hatten keine Abwasserkanäle, deshalb verschlechterte sich die Wasserqualität des Sees bedeutend. Zudem verschwand die natürliche Uferlinie und wegen der Bauarbeiten wurde der See kleiner.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der See zu einer Großstadt verbaut wurde, wo man in den endlosen Straßen nur Hotels, Pensionen und Restaurants finden konnte. Die alten Dörfer des Plattensees waren am Südufer für immer verschwunden. Zu der Zeit war weder Ästhetik noch Qualität ein wichtiges Entscheidungskriterium, weil der See keine Konkurrenz hatte. Die Zahl der Besucher stieg stark von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung der Umgebung lebte in der Illusion, dass es immer so sein werde. Damals konnte man fast sicher sein, dass ein leeres Zimmer früher oder später vermietet werden würde. Unabhängig von der Ausrüstung des Zimmers oder der Distanz zum Ufer des Plattensees.

Euphorie – Die Wende

Der Sommer 1989 brachte eine Veränderung in jedem Aspekt. Am 27. Juni durchtrennten die Außenminister von Ungarn und Österreich symbolisch die Grenze. Die DDR-Bürger folgten den Nachrichten mit gespannter Aufmerksamkeit am Plattensee. Viele von ihnen erfuhren von verschiedenen Flugblättern, dass am 19. August beim Paneuropäischen Picknick in Sopronpuszta die österreichische-ungarische Grenze für eine kurze Zeit geöffnet wird. An diesem Tag flüchteten mehr als 500 DDR-Touristen nach Österreich. Die Ereignisse wurden von Tausenden von Menschen am Plattensee mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Grenze wurde schließlich am 11. September geöffnet. Am 23. Oktober wurde in Ungarn die Republik ausgerufen. Eine Ära war endgültig vorbei.

Der Zusammenbruch – 1990-1996

Die Wende hatte katastrophale Konsequenzen für den See. Anfang der neunziger Jahre war der Balaton fast leer. Von einem Moment auf den nächsten hatte der See seine Bedeutung verloren. Es war nicht mehr der Treffpunkt von Ost und West. Mit Reisepass und Deutscher Mark in der Tasche wollten die ehemaligen DDR-Bürger statt an das bekannte ungarische Meer endlich nach Spanien oder zum Beispiel nach Italien fahren. Viel weniger Gäste kamen auch aus dem Westen. Meistens kamen diejenigen zurück, die sich im Sommer zwei Reisen leisten konnten. Einen teureren exotischen und einen billigen Urlaub. Letzteres war der Balaton. Der See fand sich in einem riesenroßen Konkurrenzkampf, worauf er nicht vorbereitet war. Außer dem Wasser hatte die Region nichts zu bieten, und auch gutes Wetter war nicht so sicher garantiert wie in einem Mittelmeerland. Die Lage wurde schlechter, als auch die ungarischen Touristen plötzlich verschwanden. Wer genug Geld hatte, reiste in westliche und exotische Länder genauso wie die ehemaligen Ostdeutschen. Und wer kein Geld hatte, blieb zu Hause. Es war auch so in Ungarn. Der Zusammenbruch der sozialistischen Betriebe verursachte eine riesengroße Arbeitslosigkeit im ganzen Land. Die Umgebung der Balaton-Region war auch keine Ausnahme.

Die Lage wurde schlechter als zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Balatons eine Umweltkatastrophe hinzukam. Im Jahr 1991 starben im See 400 Tonnen Aal, teilweise wegen des heißen Wetters und teils durch menschliche Faktoren verursacht. Der Anblick der toten Fische im Wasser schreckte die noch übriggebliebenen Touristen ab. Aufgrund der wenigen Gäste und des Profits wurden die Preise in Hotels und Restaurants sehr stark erhöht. Allerdings blieb die Qualität der Dienste gleich. Seit Jahrzehnten betriebene Hotels und Restaurants wurden für immer geschlossen.

„Brain storming“ – Die Richtung finden

Die Neunziger waren die Jahre der Stagnation und Suche nach einem Ausweg. Am Anfang erhofften nur wenige Inverstoren, dass die Region wieder beliebt wird. Es war klar, dass man eine neue Strategie brauchte, weil der konkurrenzlose Massentourismus nie mehr zurückkehren würde. Die Region bewegte sich langsam in die Richtung der Vielseitigkeit und Qualität. Einer der ersten Schritte war die Wiederherstellung des Ökosystems. Die Städte versuchten am See immer mehr Grünflächen zu gewinnen, und wegen der Abwasserentsorgung verbesserte sich die Wasserqualität. Jetzt ist sie eine der besten in Europa. Durch die Hilfe der Europäischen Union wurde auch die Infrastruktur verbessert. Der Bau der Autobahn M7 wurde beendet, sowie ein mehr als 200 Kilometer langer Radweg rund um den See. Nach dem Jahr 2000 tauchten erste Wellness-Hotels auf, die schon eine Reihe von Programmen bieten konnten, falls das Wetter sich nicht zum Schwimmen eignete. Nach langer Zeit haben sich auch die Preise normalisiert. Das heißt: Ein Urlaub am Plattensee kostete wieder deutlich weniger als eine Reise nach Kroatien.

2013

Man kann in Ungarn sehr selten optimistische Äußerungen hören, weil Jammern sozusagen zur Kultur gehört. Merkwürdigerweise waren viele Unternehmer am See trotzdem optimistisch am Ende des Sommers. Auf der einen Seite sind die Gründe klar. Die Qualität der Dienstleistungen wurde verbessert und in diesem Jahr begünstigte auch das trockene und heiße Wetter den Tourismus. Man muss aber auch hinzufügen, dass sich die Ungarn seit Beginn der Wirtschaftkrise weniger Urlaub im Ausland leisten können. Diese Tatsache erhöht auch den Umsatz des Sees. Die Leute aus Budapest verbringen lieber ein verlängertes Wochenende am See als eine Woche im Ausland.

Langsam kamen auch die ausländischen Touristen zurück. Nicht so viele wie vor der Wende, aber mehr als in den Neunzigern. Die meisten von ihnen sind natürlich Deutsche, aber immer mehr Touristen kommen aus den Benelux-Ländern und Skandinavien. Der Balaton ist besonders beliebt im Kreise der Jugendlichen. Für sie ist der See eine günstige Alternative. In diesem Jahr besuchten in nur fünf Tagen fast 130.000 junge Menschen das beliebteste Festival am See, das Balaton Sound. Dies zeigt auch, dass die erfolgreiche Zukunft des Sees in seiner Vielfalt von Dienstleistungen liegt. Heute gibt es Möglichkeiten zum Wandern, Radfahren, Segeln, Surfen und auch Wein-Touren. Diese sich ergänzenden Dienstleistungen verwandelten die Region, die hoffentlich auch in der Zukunft ein attraktives Urlaubsziel bleiben wird.


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