26.10.2017 von Radina Koleva, Bulgarien

Bulgarien 10 Jahre nach dem EU-Beitritt - keine Bilanz, nur eine kurze Geschichte

Das Problem

Auf dem Papier sieht alles gut aus – das Sozialministerium bietet über 720 Dienste für Menschen mit Behinderungen an. Die staatlichen Ausgaben für Menschen mit Behinderungen belaufen sich 2018 auf 268.300.000 BGN (rund 140.000.000 EUR) oder um 81 Millionen BGN mehr als im Vorjahr. Aber Menschen mit Behinderungen gibt es viele – laut nationalen Statistiken sind es fast 700.000, ein Großteil davon Kinder.

Die Sozialhilfe eines behinderten Kindes liegt zwischen 350 und 930 BGN (180 bis 470 EUR), aber die Hilfe wird eingestellt, sobald das Kind 18 Jahre alt wird. Selbst wenn das Kind älter als 18 Jahre ist, braucht es immer noch zahlreiche Besuche bei Ärzten und Spezialisten. Es braucht also immer noch die Unterstützung vom Staat.

Hunderttausende Bulgaren überleben trotz des Systems. Wenn Sie eine Person treffen, die mit dem System zufrieden ist, dann ist eher von einem Wunder die Rede.

„Ich schäme mich zu sagen, dass ich eine Bulgarin bin. Dies ist ein Land, das behinderte Kinder nicht als Menschen akzeptiert“, sagt die Mutter eines behinderten Kindes.

Keine Mutter möchte ein behindertes Kind zur Welt bringen. Sie alle hatten andere Träume. Wenn das Kind aber mit Behinderungen geboren wird, werden die Mütter Geiseln ihrer Kinder.

Und sie beten nur für eines – dass das Kind zuerst aus dieser Welt geht. Denn wenn es ohne Mutter bleibt, wer wird sich um das Kind kümmern, wenn der Staat abdankt und nicht existiert?

Die Proteste

Wenn Sie einen Sarg, schwarze Luftballons und traurige Frauen mit T-Shirts mit der Aufschrift „Unser System tötet“ vor dem bulgarischen Parlament sehen, bedeutet dies, dass Mütter von behinderten Kindern da sind.

Viele nationale Proteste, ein geschwärzter Platz und nur eine lückenhafte Reform: keine Strategie, keine Idee, kein System dahinter, sondern isolierte Schritte.

Nach einem der enormen landesweiten Proteste der Mütter hat sich das Sozialministerium im Jahr 2017 entschieden 930 BGN (470 EUR) pro Monat an die meisten behinderten Kinder zu zahlen. Das ist aber auch keine Reform, denken die Mütter.

„Niemand hat mich so zu Tränen gebracht wie das Sozialsystem in unserem Land“, werden Sie von einer der Mütter hören.

In diesem Sommer sind die Proteste zu etwas Größerem und Bedeutsamerem gewachsen.

Am 1. Juni, am Internationalen Tag des Kindes, errichteten Mütter ein Zelt vor dem Parlament und gelobten, dass sie dort bleiben werden, bis sie eine umfassende Reform sehen – nämlich ein „Gesetz über die persönliche Unterstützung“, wodurch die Hilfe für jedes Kind individuell bestimmt wird.

Zum Beispiel, wenn ein Kind orthopädische Schuhe und einen Rollstuhl braucht, dann muss das Kind konkret diese Unterstützungsmittel bekommen.

Mütter wollen nicht einfach Geld, sondern die richtige, maßgeschneiderte Pflege und Unterstützung für das einzelne Kind.

Laut dem „Gesetz über die persönliche Unterstützung“ hat jedes Kind Anspruch auf eine persönliche Assistentin, die sich 330 Stunden pro Monat um das Kind kümmert, nicht nur vier Stunden pro Tag wie jetzt der Fall ist. Das Gehalt der Assistenten muss auch groß genug sein, um Menschen für diese Beschäftigung zu motivieren. Denn derzeit sind die Löhne niedrig und niemand will diesen Job machen.

In Bulgarien sind in den meisten Fällen die eigenen Eltern die persönlichen Assistenten von Kindern mit Behinderungen. So können Mütter nichts anderes tun als sich nur um die eigenen Kinder zu kümmern. Sie schließen sich somit praktisch zu Hause ein. Sie gehen jahrelang nicht in die Innenstadt, weil es für ein Rollstuhlkind keine angemessene Infrastruktur gibt. Die Gesellschaft vergisst die behinderten Kinder und denkt, dass sie einfach nicht existieren.

Die Zelte der protestierenden Muetter sind immer noch da. Und nicht nur in Sofia, sondern auch in mehreren Städten des Landes. Am 30. Juli fand ein weiterer nationaler Protest statt, bei dem der Platz vor dem Parlament von schwarzen Müttern geschwärzt wurde.

Das Sozialministerium hat große Reformen versprochen. Wenn sie nicht erfüllt werden, wird es am 2. Oktober eine neue Protestaktion von tausenden von Müttern geben.

Krasimera und ihre Tochter Pasionaria

Als Krasimira vor 16 Jahren ihre Tochter Pasionaria zur Welt brachte, war alles in Ordnung. Das Kind war gesund und hatte keine Probleme. Aber nach einer Meningitis erschienen mehrfache Behinderungen – Zerebralparese, Sehverlust und viele Behinderungen, die nie verschwinden werden.

So brach die Welt von Krasimira zusammen. Seitdem kämpft sie um ein besseres Leben für ihre Tochter. Seit 15 Jahren ist Krasimira eine der Initiatoren der Mütterproteste für behinderte Kinder – sie wollen einfach ein besseres Leben für ihre Familien.

Krasimira hat an jedem einzelnen Protest teilgenommen. An jedem! Wegen der Behinderung ihrer Tochter hat Krasimira 15 Jahre lang nicht gearbeitet. Sie braucht Tausende von Levas pro Monat, um die Pflege von Pasionaria zu gewährleisten. Das Sozialministerium hilft mit nur wenig Geld, das für nichts ausreicht. Pasionaria benötigt besondere Pflege und Spezialisten, aber solche sind in Bulgarien selten.

Seit Jahren hat Pasionaria das Stadtzentrum nicht gesehen, weil das Zentrum nicht erreichbar ist – der Transport ist nicht geeignet für Menschen mit Behinderungen und Rollstühlen. Krasimira muss auch jedes Jahr ihre vollbehinderte Tochter zum Arzt bringen, der erneut bestätigen muss, dass sich der Zustand des Kindes nicht verbessert hat. Mit diesem Dokument vom Arzt muss sich Krasimira nochmal bei den sozialen Institutionen vorstellen, um Hilfe zu bekommen. Das passiert jedes Jahr.

Alle Journalisten kennen Krasimira. Immer wieder haben sie in den letzten Jahren ihre Geschichte erzählt. Auch bei den diesjährigen Protesten wurde ihre Geschichte im Fernsehen gezeigt, diesmal hat sie aber zu etwas Unerwarteten geführt…

Die Tränen des Ministerpräsidenten

Zufällig hat unser Ministerpäsident Boyko Borissov den TV-Beitrag über Krasimira und ihre Tochter gesehen. Und er habe angefangen zu weinen. Er sei wirklich traurig gewesen! Das hat er selbst den Journalisten gesagt. Er sagte, es sei schwierig für diese Mutter, bei diesem Kind zu sein, und forderte die zuständigen Minister auf, eine Lösung zu finden.

Diese Tränen bedeuteten für Krasimira jedoch keine Freude, sondern eine Beleidigung. Sie forderte den Premierminister auf, sich bei ihr zu entschuldigen. Denn, wie sie selbst sagte, war sie 15 Jahre in den Medien präsent, um immer wieder zu erklären, dass tiefgreifende Sozialreformen notwendig sind. Und der Premierminister sieht das Problem erst jetzt.

Krasimira und ihre Entscheidung nach 15 Jahren Kampf

In diesem Jahr protestierte Krasimira nicht mehr. Zum ersten Mal seit 15 Jahren. Am Tag eines der großen Proteste, als Mütter in schwarzen T-Shirts Gerechtigkeit unter den Fenstern des Parlaments verlangten, packte Krasimira ihr Gepäck.

Am nächsten Tag war Krasimira mit ihrer Tochter am Flughafen. Mit zwei Koffern, enormer Traurigkeit und dem Gefühl, dass ihre Heimat sie vertrieben hat.

Einige Monate später hat Krasimira bereits einen Job in den Niederlanden und fühlt sich besser. Sie fühlt sich nützlich. Pasionaria lächelt immer öfter. Das Kind wird von einer Vielzahl von Spezialisten betreut, hat einen brandneuen orthopädischen Kinderwagen und bekommt alle Medikamente, die sie braucht. Vor allem bekommt sie aber die Aufmerksamkeit und Sorgfalt, die jedes Kind verdient.

Dennoch ist Krasimira nur halb glücklich. Sie wollte, dass ihr Kind in Bulgarien eine Zukunft hat. Sie wollte nicht, dass sie eine der mehreren bulgarischen „Gesundheitsemigrantinnen“ wird.

Die Zukunft

Wenn Sie Sofia jetzt besuchen, werden Sie sie sehen: Die Mütter sind immer noch vor dem Parlament. Sie hoffen weiterhin auf eine gute Zukunft für ihre Kinder. Sie wollen eine Wahl haben – ob sie ihren Nachwuchs betreuen oder andere Leute als Assistenten einstellen, um selbst zum Arbeitsmarkt zurückkehren zu können. Sie wollen, dass ihre Kinder zur Schule gehen, wie die gesunden Kinder.

Diese Frauen haben nichts zu verlieren. Sie wollen einfach Garantien, dass es jemanden geben wird, der auf ihre Kinder aufpassen wird, sobald die Mütter nicht mehr auf dieser Welt sind. Sie wollen Teil eines Systems sein, das ihnen hilft und sie nicht tötet. Wollen diese Mütter wirklich so viel?

Das Sozialministerium versprach Änderungen. Es versprach umfangreiche Unterstützung für die betroffenen Kinder. Das ist nur eine kleine Hoffnung für die Mütter. Sie hoffen auf konkrete Taten. Und sie werden dort bleiben, bis der Staat die Verantwortung für ihre Kinder tatsächlich übernimmt. Weil sie…nichts mehr zu verlieren haben.

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