30.09.2012 von Neli Cholashka-Melidou, Bulgarien

Die Geburt der Zivilgesellschaft in Bulgarien nach 22 Jahren des Wartens

Meine Kindheit wurde komplett gestohlen. Diese Zeit, wie sehr man es sich auch wünscht, wird nie wieder zurückkommen. Verschwunden. Sie ist auf dem Grund eines Meeres verschwunden.

2015. Sarajevo, Bosnien

Es ist Morgen. Die Sonne scheint auf die ganze Stadt. Sarajevo erwacht langsam. Ich wache mit ihr auf. Ich stehe auf, öffne das Fenster. Ich fühle mich wie ein Vogel im Flug. Frei und glücklich. Ich schaue in den Himmel. Er ist blau und groß. Ein wunderbares Gefühl. Aber es hat nicht lange angehalten. Ich blicke nach unten und beobachtete das Gebäude, in dem ich lebe. Ich sehe die Löcher der Bomben, ich sehe die Vergangenheit, ich sehe den Krieg, Bomben, Gewehrfeuer. Ich sehe viele hässliche Dinge. Ich sehe meine Kindheit. Ich werde traurig, aber nur für eine Minute. Der Krieg endete vor 20 Jahren. Ich lebe jetzt in Freiheit, ohne Krieg, ohne Probleme. Ich bin wieder glücklich. Zufrieden. Allerdings hält das Gefühl nicht lange an. Etwas später an diesem Tag, ein Blick, ein Bild, eine Geschichte machen mich zum traurigsten Mann der Welt. Ich sehe und glaube nicht, was passiert ist. Ich fange an zu weinen. Ich bin traurig, ich bin wütend auf die ganze Welt. Was ich an diesem Tag sah, waren ein rotes T-Shirt, blaue Shorts, ich werde sie nie vergessen. Genau wie das, was vor vielen Jahren passiert ist. Im Kopf ging ich zurück in die Vergangenheit. Das erste, an was ich mich in meinem Leben erinnere, sind Szenen die ich lieber wieder löschen würde. Aber das ist nicht möglich.

1992. Odžak, Bosnien und Herzegowina

Militärflugzeuge, Bomben, Soldaten, Menschen die weinen, schießen, dies war mein Alltag.

Während die anderen Kinder mit Spielzeug gespielt haben, über die Felder liefen und lachten, erinnern sich die anderen Kinder, nicht so weit weg von ihnen, wir, die Kinder aus Bosnien und Kroatien, an einige ganz andere Tage. Es gab kein Spielzeug, keinen Strom, kein Wasser, gar nichts. Es war einfach etwas, über das wir uns noch nicht einmal bewusst waren.

Ostern 1992. Mama und ich waren zusammen zu Hause. Mein Vater kam und befahl uns, wichtige Dinge zu nehmen und zu flüchten. Die Situation wurde ernst. Er machte sich Sorgen um unser Leben. Während Mama die Sachen packte, verabschiedete ich mich von unserem Haus. Ich besuchte jeden Teil des Hauses. Ich weinte und schrie „das ist mein Haus, das ist mein Zimmer, mein Bett…“ Ich wollte nicht gehen. Ich war zu klein um zu verstehen, wohin und warum ich gehen musste und doch zu groß, um zu wissen, dass ich nicht gehen wollte. Ich war erst fünf Jahre alt. Mein Vater brachte uns in ein Auto. Es war schon fast dunkel. Nach einer halben Stunde kamen wir an. Mein Vater küsste mich auf die Stirn. Ich weinte, wollte dass er bei uns bleibt. Aber er blieb zu Hause. Im Krieg. Ich blieb mit meiner Mutter und meinen Nachbarn an der Kroatisch-Bosnischen Grenze.

Ich wende mich ab. Mama hält mich mit einer Hand, mit der anderen hält sie einen großen Koffer. Und wir sind zu Fuß in eine fremde Richtung weggegangen. Es war dunkel, kein Licht überall. Wir hörten nur Flugzeuge und Bomben. Wir waren auf der Flucht. Ich hatte Hausschuhe an den Füßen, einen grauen Pullover und Hosen. Ich erinnere mich, wie gestern. Nach 15 Minuten zu Fuß kommen wir zu einer Küste. Es gibt hunderte von Menschen. Ich sehe ein weinendes Gesicht, Frauen, Kinder, kleine und große. Ich sah, das Wasser und das Boot. Ich glaube, ich bin auf dem Meer. Ich weiß nicht warum, aber ich erinnere mich, dass sie uns baten, ruhig zu sein. Nach einer halben Stunde betraten wir das Schiff. Wir treiben. Es ist ruhig. Menschen weinen leise. Nach zehn Minuten gehen wir wieder, wieder Schlamm. Wir kamen zu den Bussen. Jemand sagte laut „Flüchtlinge hierher!“ Mein Flüchtlingsleben in Kroatien dauerte vier Jahre. Vier Jahre lang von meiner Heimat entfernt. 1996 kehrte ich nach Odžak zurück.

Heute, 20 Jahre nach dem Ende des Krieges in meinem Land, kann ich einige Dinge viel besser verstehen, als damals.

Heute lebe und arbeite ich in Sarajevo, einer Stadt, die sich vier Jahre im Krieg befand. In Sarajevo starben im Krieg von 1992 bis 1995 mehr als 1.600 Kinder. Kinder, die heute junge Männer und Frauen wären, aber jemand hat ihr Leben früh beendet.

1992. Bosnien – 2015. Syrien

Genau gleich. Wie das Leben eines kleinen Jungen in einem roten Hemd und blauen Shorts genommen wurde.

Es ist AYLAN, diesen Name müssen wir immer mit Großbuchstaben schreiben.

Es ist ein Junge, dessen Tod eine Schande ist. Eine Schande für die Menschheit, für Europa, in der Aylan mit seiner Familie auf der Suche nach einem besseren Leben war.

Zwei tote unschuldige Kinder: Aylan (3) und sein Bruder Galip (5) liegen im Sand. Es ist eine Szene, die die ganze Tragödie der Flüchtlinge am besten symbolisiert.

In Kobane existiert kein Leben, nur Bomben. Aus dieser syrischen Stadt, die durch den IS bedroht wird, flohen Aylan und sein Bruder. In nur drei Jahren seines Lebens war Aylan offensichtlich nur eine einzige Sache bewusst: Angst. In Europa ist dieser Junge leider nicht angekommen. Heute sollte er Fußball spielen, mit Kindern lachen können. Der Junge, der noch nicht angefangen hatte zu leben, hat die Welt verlassen, bevor er eine Chance auf das Leben hatte. Die Tür des Lebens blieb ihm versperrt. Aylan lebte drei Jahre mit uns. Auch wenn er nicht mehr da ist, seine Engelsaugen und sein Lächeln werden immer in unseren Herzen bleiben. Aylan wird nie vergessen werden! Wenn wir es nicht geschafft haben, das Leben dieses Jungen zu retten, müssen wir das Leben eines anderen Kindes retten. Wir haben kein Recht, ihre Kindheit zu stehlen. Wir müssen ihnen helfen!
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