Wollten Sie schon immer wissen, welche namhafte Persönlichkeit in Ihrem Haus gewohnt hat? Sind Sie neugierig darauf, wo die Wohnungen waren, die während des Kommunismus für die verdeckte Überwachung der Bürger dienten? Und welche waren die sogenannten „geschützten Häuser” während des Holocausts? In Budapest sind seit ein Paar Jahren Stadtführungen für Einheimische sehr populär geworden. Zivilgesellschaftliche Organisationen und abenteuerlustige Start-up-Unternehmer bieten spezielle Stadtspaziergänge gegen ein kleines Entgelt oder sogar kostenlos.
Manche der Führungen, wie zum Beispiel die des Vereins Miénk a Ház, konzentrieren sich auf die eine oder andere Epoche der Kunstgeschichte, eine Phase der Stadtentwicklung oder auf literarische Bezüge. Andere bieten Einblicke in die politische Geschichte der Stadt oder in die Geschichte einer ethnischen oder religiösen Minderheit (Hosszúlépés). Die Tage der Hundert Jahre Alt Häuser (Százéves Házak) wurden zu einem Ereignis, an deren Programmen jedes Jahr Tausende von Interessenten teilnehmen. Bewohner geben Hauskonzerte, selbst gemachte Snacks werden angeboten, Fotoausstellungen organisiert und die Gäste werden von Aktivisten durch das Haus geführt.
Gemeinsam in den Straßen zu spazieren, in sonst geschlossene Jugendstil-Treppenhäuser und Hinterhöfe hereinzuschleichen und dabei von engagierten jungen Archivaren und Archivarinnen, Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen bisher wenig bekannte Tatsachen über die Geschichte der eigenen Stadt zu erfahren, ist natürlich spannend. In einem Land aber, wo Vergangenheitsbewältigung so schwer fällt, da ist etwas mehr drin. Für viele ist das die Nostalgie, die Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ der letzten Friedensjahre vor dem Ersten Weltkrieg oder nach „der lustigsten Baracke“ des Ostblocks. Schließlich haben auch Facebook-Gruppen, wo alte Stadtansichten, Postkarten und Privatfotos von Budapest und einzelnen Stadtteilen publiziert werden, Hochkonjunktur. Es ist in Mode gekommen, ein Lokalpatriot zu sein.
Für manche geht es aber darum, neue Erzählungen zu finden und das kollektive Gedächtnis zu bewahren. Diejenigen, die zu dieser Gruppe gehören, sind ebenfalls am richtigen Ort: In Stadtspaziergängen Budapests wird Geschichte über Mikrogeschichten einzelner Individueller vorgeführt.
Wieviele andere Länder Mittel- und Osteuropas auch hat Ungarn im 20. Jahrhundert viele abrupte Wendungen erlebt. Und oft war die Devise: Vergessen, was nicht ins Bild passt. So kam es dazu, dass heutzutage – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – trotz der vielen Urteile der Kriegstribunale nach dem Kriegs immer noch kein gesellschaftlicher Konsens über die Mitschuld vieler Ungarn und der damaligen Regierungen am Holocausts besteht. Heftige Debatten über die Neugestaltung des Kossuth-Platzes vor dem Parlament und die Errichtung eines Denkmals der deutschen Besetzung Ungarns während des Zweiten Weltkrieges haben auch in ausländischen Medien für Schlagzeilen gesorgt. Dasselbe gilt für das Denkmal der Opfer der deutschen Besatzung Budapests, das 2014 am Platz der Freiheit (Szabadság tér) gegenüber dem Sowjetdenkmal errichtet wurde und gegen das die Opposition und jüdische Vereine heftig protestierten. Das seit 2017 regierende Parteibündnis Fidesz-KDNP ist oft mit dem Vorwurf konfrontiert, sie wollten die Mitschuld von Miklós Horthy relativieren oder infrage stellen. Aber auch was die Verarbeitung der Verbrechen, die während des Kommunismus begangen wurden, gibt es weiße Flecken. Der friedliche Übergang im Wendejahr 1989 hatte den Preis, dass die Akten der Mitglieder des kommunistischen Geheimdienstes nicht offengelegt wurden und ehemalige hohe Staatsfunktionäre ihren Besitz erhalten konnten. Béla Biszku, ehemaliger Innenminister und verantwortlich für die Erschießung von Aufständischen 1956, wurde erst im Jahr 2013 vor Gericht gestellt und zu einer Haftstrafe verurteilt.
Natürlich sind nicht alle Stadtspaziergänge zu so schwierigen Themen konzipiert. Und man kann auch nicht behaupten, dass ihre Mitwirkung bei der Vergangenheitsaufarbeitung absichtlich ist. Was aber sicher ist: Dass es nach den Jahren des Verdrängens einen Anspruch der Zivilgesellschaft gibt, das ganze Bild zu sehen. Kann das gänzlich außerhalb der institutionellen Rahmen der Geschichtserzählung geschehen? Sicher nicht. Politik und Wissenschaft haben hier viel zu tun. Aber das Bild wird immer heller. Auf den Straßen von Budapest beginnen die Stein zu erzählen.
"