07.10.2018 von Joanna Boruc, Polen

Eine Journalistin in der Krise – Eine Krise des Journalismus

Fünf Jahren sind vergangen, seit der Ermordung des ukrainischen Journalisten Georgij Gongadze. Viel ist seither in der Ukraine passiert. Die orangene Revolution endete friedlich. Viktor Juschtschenko wurde im zweiten Anlauf zum neuen Präsidenten gewählt. Doch vor zwei Wochen hat er die populäre Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko entlassen und nun droht der Regierung die Spaltung.

Und schon wieder gehen Journalisten auf die Straße und protestieren. Genau wie früher demonstrieren sie vor dem Präsidentenpalast und fordern erneut die Wahrheit. Doch diesmal von der Macht, die sie vor einem Jahr während der Revolution noch unterstützt hatten. Auf den Plakaten steht nun nicht mehr: "Kutschma, wo ist Gongadze?" Sie fordern heute: "Juschtschenko, wer sind die Auftraggeber des Mordes an Gongadze?". Allein diese Forderung verdeutlicht, was sich die Menschen in der Ukraine derzeit fragen: Was hat sich seit der Revolution wirklich verändert?

Vieles in der aktuellen ukrainischen Politik ist kaum noch zu verstehen. Das System nähert sich einer neuen Krise. Das frühere Machtkartell um den abgewählten Präsidenten Kutschma war im vorigen Dezember vor den Augen der Weltöffentlichkeit auseinander gefallen. Nun aber stehen auch die damaligen Revolutionsführer Juschtschenko und Tymoschenko auf verschiedenen Seiten der Barrikade und Präsident Juschtschenko ist allein übrig geblieben. Denn um ihn herum gibt es fast keinen Politiker, der nicht in irgendwelche Machenschaften verstrickt sein soll oder dem nicht Korruption vorgeworfen wird. Selbst die einfachen Leute, die während der Revolution bei klirrender Kälte gemeinsam auf dem Platz der Unabhängigkeit mitten in der Hauptstadt Kiew friedlich demonstriert haben, streiten jetzt miteinander. Einige unterstützen Juschtschenko, andere sagen: "Wenn Tymoschenko ruft, wir sind bereit, wieder ins Stadtzentrum zu gehen. Diesmal um die Konterrevolution voran zu treiben."

In dieser Situation braucht die Ukraine nicht auf Westeuropa zu hoffen. Denn der Chef der EU-Kommission, Jose Manuel Baroso hat bereits deutlich gemacht, dass die Ukraine beim derzeitigen politischen Stand nicht auf Europäische Versprechen setzten kann.

Und die Zeit verstreicht und beunruhigt natürlich Westeuropa und die EU. Selbst seit der Machtübernahme von Juschtschenko ist im Fall des Journalisten Georgij Gongadze nichts aufgeklärt worden. Die Umstände seiner Ermordung sind weiter unklar. Die Auftraggeber wurden nicht gefunden und die Lage verschlimmerte sich noch: Denn seit der Tat verschwanden Menschen aus dem Umfeld des Journalisten und der Verdächtigen, andere wie der frühere Transportminister Grygorij Kyrpa und ehemalige Innenminister Kravtschenko begingen Selbstmord.

Georgij Gongadze hätte sich nie vorstellen können, dass er einmal so viel in der Ukraine bewirken kann. Und, wie zynisch das auch klingen mag, noch immer bewirkt. Das alles nur, weil die Aufklärung seines Todes nicht vorankommt. Erst, wenn Kutschma im Gefängnis ist und keine Kommentare mehr im Fernsehen abgibt, und endlich der Kopf des ermordeten Journalisten gefunden und begraben ist, kann man sagen, dass es in der Ukraine Pressefreiheit gibt.
"

Verwandte Beiträge

2018 Albanien Auswanderung in Albanien – Die Ärzte sind dran 2018 Mongolei Hat Aufarbeitung ein Ende oder bleibt was im Gedächtnis des Menschen 2018 Polen Eine Journalistin in der Krise – Eine Krise des Journalismus 2018 Russische Föderation OTR: Ein schwerer Weg zur Meinungsvielfalt in Russland 2018 Tschechische Republik Tsche – chi – en – 1918 – 1968 – 2018 2018 Ungarn Das Scherflein des Menschen 2018 Usbekistan Usbekische Party – Wir spielen Gap 2018 Bulgarien Bulgarien – der „behinderte“ Staat, der die bulgarischen Mütter verdrängt (hat) 2018 Kroatien Es war einmal in Kroatien, im Sommer 2018… 2018 Rumänien Streitfragen des Zivilrechts als Köder für restriktive Meinungsmache 2018 Slowakei Zeitgenössische Kunst, Quo Vadis? 2015 Polen Flüchtlingskrise – Die herzlosen Polen? 2014 Polen Der lange Schatten der Geschichte – Eine lebendige Angst vor dem Krieg in Polen 2013 Polen Homo-Probleme: „Kalte Kartoffeln“ 2013 Polen Auf Teufel komm raus – Polnische Exorzisten auf dem Vormarsch 2012 Polen In der Mitte zwischen Polen und Deutschland 2010 Polen Geteilt wie nie zuvor 2009 Polen Ich habe eine Wahl. Ich habe Einfluss. Ich habe die Medien. Multimediale Aktion für Jugendliche 2008 Polen Polnische Wege in die EU 2007 Polen Polen steht vor Neuwahlen 2005 Polen Akademischer Rundfunk in Polen 2004 Polen Entschädigungsforderungen für Kriegschäden: Eine deutsch-polnische Debatte ohne Ende? 2003 Polen Die Deutsch-Polnische Debatte zum Zentrum gegen Vertreibungen