Ich wache auf. Mein Kopf tobt. Viele Anrufe. Was ist los? Mein Vater am Telefon. Er weint nicht, aber ich höre ihn schluchzen. Seine Stimme ist schwach. Unser Präsident ist tot. Spinnst wohl? Nein, leider nicht… Schnell ins Internet. Informationshunger.
Ich lese. Der polnische Präsident Lech Kaczyński und die 95 wichtigsten Personen in Polen kommen in Smoleńsk ums Leben. In Warschau und ganz Polen trauern alle. Egal ob alt oder jung, schwul oder hetero, Kaczyńskis Anhänger oder Erzfeinde. Katholiken und Atheisten. Millionen von Menschen versammeln sich und schweigen. Ich bin auch dabei. Vor dem Präsidentenpalast. Es war immer so. Wenn etwas schlimmes passiert, dann will man nicht alleine sein. Manche sind in ihrem Familienkreis, andere suchen Antworten bei Gott. Ich steh unter Unbekannten, aber ich fühle die Affinität. „Kaczyński war ein sehr guter Präsident, Staatsmann“, sagt eine ältere Frau mit einer brechenden Stimme. „Ich hab ihn nie gemocht, aber er war halt ein guter Typ“, meint einer von seinen bissigen Gegnern, ein junger Schwuler. Alle sind zusammen. Ein toller Traum.
So eine Einheit gab es seit Solidarność noch nie. Ich denke, manche brauchen Schock und Trauer um die Augen zu öffnen. Auf einmal wird Kaczyński doch ein guter Präsident. „Er war doch der Held von Georgien“. „Er hat doch unsere und die europäischen Interessen verteidigt.“ Obama weint, Merkel ist erschüttert, Putin kann es nicht glauben. Hunderte von Trauerbriefen. In allen Medien weinen seine Erzfeinde. Aus blauen Himmel finden sich seine großen und visionären Reden, humorvolle Bemerkungen, lustige Fotos, staatsmännische Pläne. Niemand hat sie früher gesehen. Lebten wir in einem Land mit Zensur? Niemand lacht ihn mehr aus. Niemand diffamiert, verleumdet, niemand spuckt ihn an. Der war eigentlich ein Super-Präsident meinen 80 Prozent der Bevölkerung. Noch mehr glauben daran, dass die Medien daran schuld sind – sie lügen und manipulieren. Der Traum ist wunderschön.
In deutschen Zeitungen viele Kommentare. Keine Kartoffel, kein Zwerg – nur ein sehr guter Politiker. In Polen eine große Chance. „Das wird ein neuer Anfang sein“, sagen die Politiker. „Eine neue politische Aufgabe“. Eine Möglichkeit endlich den Ton zu ändern. „Das Niveau des politischen Diskurses war unter aller Sau. Raus aus dem Keller!“, fügen andere hinzu. „Der Kaczyński war kein Idiot, kein Liliputaner, kein Arschloch“. Wir sind alle zusammen. Ich will nie aufwachen.
Die polnische Mentalität ist komisch. Wenn alles gut läuft, gibt es nur Ärger und Streit. Wo sich zwei Polen befinden, gibt es mindestens drei Meinungen. Eine tolle Redewendung. Leider auch eine treue Widerspiegelung der polnischen Seele. Solidarność war ein großer Aufstand. In tragischen und schlechten Zeiten sind die Polen stark. Einheit und Solidarität, statt Auseinandersetzung, Fehde, Gerangel, Krach, Schlagabtausch, Wortwechsel und Zank. Polen wurde wieder unabhängig und frei. Und dann fing es an. Keine Solidarität mehr. Immer Gejammer. 21 Jahre verloren. Die größte Tragödie in der Geschichte (nie und nirgendwo in Zeiten des Friedens sind auf einmal die 96 wichtigsten Personen in einem Land gestorben) ist ein guter Ansatz. Die Politiker reden von einer überparteilichen Front. Wir haben zu viel Zeit verdorben. Wir haben uns seit 1989 zu viel gestritten. Wirtschaftlich und politisch sind wir 50 Jahre hinter Deutschland. Bei uns gibt es zu viel Extremismus, zu viel Intoleranz. Wir sind kein osteuropäisches Land, aber auch kein westeuropäisches. Immer in der Kluft. Zusammen schaffen wir das. Schwierige Reformen und wichtige Entscheidungen stehen vor uns. Das alles sagen die Politiker. Vielleicht war der Tod von diesen vielen Menschen ein Opfer. Ich will weiter träumen.
In der Menschenmenge vor dem Präsidentenpalast sehe ich eine Freundin von mir. Sie wirft sich in meine Arme und flüstert: „Ich war doof, ich ließ mich manipulieren, jetzt verstehe ich alles. Entschuldigung“. Keine Ursache, sag ich. Wir haben noch einen vernünftigen, logisch denkenden, westeuropäischen Bürger gewonnen. Das sag ich auch, aber in meinen Gedanken. Sie hält meine Hand. Wir weinen und stehen vor dem Kreuz. Wir beten, obwohl wir nicht genau wissen, wie das geht. Das große Kreuz, ein neues Symbol von Solidarität. Wir sind stark. Wir sind zusammen. Das kriegen wir schon hin. Ich will nie aufwachen.
10. September 2010\
Ich lese die Zeitungen. Der Zwillingsbruder vom gestorbenen Lech Kaczyński ist ein Zwerg, eine Kartoffel und ein Arschloch. Er kann seinem Bruder nicht das Wasser reichen. Im Fernsehen spucken sich alle an. Das Niveau ist noch schlimmer geworden. Am Abend mache ich einen Spaziergang. Alle sind mir fremd. Keine Solidarität. Vor dem Präsidentenpalast steht immer noch das Kreuz. Viele beten, aber die Mehrheit ist besoffen und lacht die Betenden aus. Manche speien sie an. Andere werden handgreiflich. Die Polizei reagiert nicht. Das Kreuz ist kein Symbol mehr. Im katholischen Polen. Auf einmal sehe ich meine Freundin. Sie guckt mir tief in die Augen und wirft eine Bierdose an das Kreuz. Keine Scham, keine Gewissensbisse. Die Einheit ist weg. Der Impuls ist schon vorbei. Vielleicht verpassen wir den nächsten nicht. Vielleicht steigen wir in den nächsten Zug am Bahnhof Vernunft ein. Was muss noch passieren? Wer muss noch sterben?
Ich wache auf…