Das Leben an der Grenze ist ganz anders – du bist sehr nah, aber nicht dort. In Uzhgorod, der ukrainischen Stadt, die an der Grenze zur Slowakei und Ungarn liegt, „dort“ bedeutet auf der anderen Seite, in der EU.
„Gott sei Dank haben wir eine Grenze!“, erzählt mir meine Nachbarin Erika, 65 Jahre alt. Heute ist sie bereits Rentnerin. 40 Jahre hat sie in einer Fabrik in Uzhgorod gearbeitet. Am zehnten Tag jeden Monats bekommt sie ihre Rente. Das Problem ist, dass Erika keine Ahnung hat, wie man den Geldautomaten benutzt. Sie vertraut ihrem Sohn nicht und deshalb bittet sie mich das Geld vom Automaten abzuheben. Sie kann natürlich ihre Pinnummer nicht im Kopf behalten, deshalb hat sie sie auf einen Zettel geschrieben. Als sie mir den Zettel gibt, sagt sie: „Wozu brauchen wir diese dummen Maschinen? Ich habe immer problemlos im Betrieb meinen Lohn bar bekommen. Das war aber vor vielen Jahren.“ Als ich Ihr das Geld gebe, guckt sie mich aufmerksam an und zählt die Banknoten. Sie glaubt den Maschinen nicht, deshalb zählt sie das Geld mit ihren eigenen Händen. Wenn Erika das Geld nachzählt, muss ich geduldig bei ihr stehen und warten bis sie mir sagt, dass alles stimmt. Wenn man bei ihr steht, kann man sehr gut hören wie sie die Zahlen leise spricht. Endlich nickt sie, versteckt das Geld tief in der Tasche und sagt „Gut. Danke.“ Jeden Monat kriegt sie vom Staat 1000 Hryvnia (ca. 91 Euro).
Es ist nicht genug Geld um Lebensmittel und Miete zu bezahlen, deshalb muss Erika ein Geschäft machen. Fast jeden Tag, außer am Wochenende, fährt sie mit dem Linienbus in die Slowakei um ein paar Zigarettenschachteln zu verkaufen. Das größte Problem von Erika besteht darin, dass man über die Grenze nur zwei Zigarettenschachteln mitnehmen darf, deshalb muss Erika die Zigaretten bei sich selbst gut verstecken oder sie unter den anderen Passagieren im Bus verteilen. Die zweite Methode ist sicherer. „Sie machen es nicht gerne. Sie haben Angst. Sie verstehen nicht, dass sie laut Gesetz zwei Zigarettenschachteln haben dürfen. Es ist legal. Das ist kein Schmuggel. Aber es gibt verschiedene Leute. Gott sei Dank gibt es immer jemanden, der helfen wird“, sagt Erika. Jede Reise ist für sie eine große Lotterie. In diesem Geschäft gibt es eine Menge Erfolgsfaktoren: Passagiere im Bus, die Laune der Kontrolierenden und... das Wetter. Ja, genau, das Wetter... „Im Winter ist es viel leichter. Du hast viele Klamotten an und es ist leichter die Zigaretten zu verstecken. Im Sommer ist es nicht so einfach“, verrät mir Erika ihre kleinen Geschäftsgeheimnisse. „Es ist auch sehr wichtig, dass dich ein Mann kontrolliert, nicht eine Frau. Die Frauen sind echte Hunde. Sie wissen immer was und wo du etwas versteckst. Die Männer wissen das auch, aber sie geben vor, dass sie es nicht wüssten. Meistens haben sie Mitleid mit mir. Mit Frauen geht es nicht. Aber was wird mit der EU passieren wenn ich dort ein paar Zigarettenschachteln verkaufe?“, fragt mich Erika.
In der Slowakei hat sie bereits ihre festen Kunden. Dort kauft sie Lebensmittel und verkauft sie auf einem Markt in Uzhgorod. Es ist paradox, aber die Lebensmittel sind in der Slowakei billiger als in der Ukraine. Während einer Reise kann Frau Erika bis zu 100 Hryvnia (ca. zehn Euro) verdienen. Und es viel für eine Rentnerin. „Ich arbeite in einem kleinen, andere haben ein großes Geschäft. Leider habe ich aber keinen Tunnel“, sagt Erika und lächelt. Sie meint einen realen Tunnel, der viele Monate Topnachricht in vielen Medien war. Das was wirklich ein riesiger Skandal. Vor einem Jahr wurde von der Polizei am Rande der Stadt Uzhgorod in einem Keller eines privaten Hauses ein Eingang in einen Tunnel entdeckt. Der Ausgang des Tunnels war auf der slowakischen Seite – in der EU. Durch den Tunnel, der fast einen Kilometer lang ist, wurden Zigaretten, Alkohol und sogar Drogen in kleinen Wagons unter der Erde transportiert. Zwei Brüder wurden von der Polizei verhaftet, aber die Arbeit in dem Tunnel war so gut geplant, dass es kaum möglich ist zu glauben, dass der Schmuggel in so großen Maßstäben nur von zwei Menschen organisiert wurde. Der Erlös des Geschäfts war riesig. Niemand weiß, wie lange der Schmuggel durch den Tunnel funkionierte.
„Was meinen Sie?“, frage ich Erika. „Hat jemand den Brüdern geholfen?“ Erika guckt mich so an, als ob ich blöd wäre. „Selbstverständlich. SIE haben den Brüdern geholfen.“ „Was meinen Sie mit SIE?“, frage ich sie noch einmal. „Slowaken oder Ukrainer?“. „Beide!“, sagt Erika streng und kurz. „Vielleicht haben sie etwas nicht gerecht aufgeteilt.“
Normalerweise hat Erika sehr wenig Zeit um mit mir zu sprechen. Sie steht um fünf Uhr auf, bereitet den Frühstückstisch für ihren Sohn und ihren Enkel vor und geht dann zur Busstation. „Du weisst ja sehr gut, dass ich alles selbst machen muss. Ich kann mich auf ihn nicht verlassen“. „Auf ihn“ bedeutet bei Erika „auf ihren Sohn“, der ein starker Säufer ist. Oleg, so heißt er, bekommt seit einigen Jahren keine Arbeit mehr. Ein Schengenvisum hat er auch nicht und er kann seiner Mutter mit dem „Geschäft“ nicht helfen. Wenn er könnte, würde er das auch nicht machen, als kleiner Schmuggler zwischen Männern, der als „weibliche Arbeit“ verstanden wird. Die Frau von Oleg arbeitet in Italien. Der Mann wohnt in einer kleiner Wohnung mit seiner Mutter und seinem kleinen Sohn. Ab und zu hilft er in einer Werkstatt alte Autos zu reparieren. „Gott sei Dank sind fast alle Autos in Uzhgorod alt“, sagt seine Mutter Erika und lächelt. Es ist wirklich so. In Uzhgorod kann man viele Autos mit slowakischen Kennzeichen sehen. Die Fahrer sind aber keine Touristen. Die Ukrainer kaufen die Autos in der Slowakei und benutzen sie dann in der Ukraine. Sie können aber die Autoschilder nicht ändern. Alle zehn Tage sollen sich die Autobesitzer bei der ukrainische Grenzkontrolle melden. Dies besagt das Gesetz. Trotz der Unbequemlichkeiten kaufen die Leute die Autos im Ausland, weil die Preise alter Autos in der EU mit denen in der Ukraine unvergleichbar sind. Was DORT schon alt ist, kann man hier als ganz neu bezeichnen.
„Gott sei Dank haben wir die Grenze, ohne die kann ich mir das Leben nicht vorstellen.“, sagt Erika. „Was wird aber passieren, wenn die Ukraine in die EU eintreten wird?“, frage ich. „Oh... Das wird aber noch lange dauern!“, antwortet Erika und lächelt. „Sie haben noch sehr viel zu tun.“ Als Erika das sagt, zeigt sie irgendwo mit der Hand hin. Ich kann die Richtung der Hand nicht bestimmen. Sie könnte auf Brüssel oder Kiew zeigen. „Zuerst müssen sie Yulia freilassen (Mit „Yulia“ meint Erika die ukrainische Ex-Ministerpräsidentin, die schon fast drei Jahre im Gefängnis sitzt.) „Werden mal sehen“, setzt Erika fort, „was später passiert...“ Dann schweigt sie, atmet tief aus und sagt: „Das wichtigste ist, dass wir gute Nachbarn sind: Du hilfst mir und ich werde dir helfen... So ist es auch mit den Staaten.“
Vielleicht ist es so. Die Theorie von meiner alten Nachbarin klingt ganz gut, obwohl sie auf einem illegalen Grund aufbaut. Erika hat aber keine Zeit um darüber nachzudenken. Sie beeilt sich, wie immer, in die EU. Aber jeden Abend kommt sie wieder zurück in die Ukraine...
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