06.10.2018 von Klaus-Martin Philippi, Rumänien

Streitfragen des Zivilrechts als Köder für restriktive Meinungsmache

Hermannstadt in Siebenbürgen, einem Landesteil Rumäniens inmitten des Karpatenbogens. In der amtlichen Landessprache sieht das Buchstabenbild anders aus, doch auf der Straßenkarte ist es ein und derselbe Ort: „Sibiu în Transilvania“. Ebenso üblich ist es, die Kreishauptstadt im Südwesten Siebenbürgens und ihr Umland ungarisch als „Nagyszeben, Erdély“ zu nennen. Soviel zum sprachlichen Reichtum Siebenbürgens, wo man seit jeher Toleranz übt, die auch mal zu einem delikaten Hindernis psychologischer Gesellschaftsspaltung ausarten kann, wenn man sich vor Augen führt, dass in Siebenbürgen nicht nur drei verschiedene Muttersprachen, sondern auch bis zu zehn unterschiedliche christliche Konfessionen zuhause sind. Die reformierte Kirche einschließlich der Unterteilung in Calvinistische und Unitarische Kirche, die römisch-katholische und griechisch-katholische Kirche, die evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses, aber auch freikirchliche Glaubensgemeinschaften wie die Kirchen der Adventisten und Pfingstler sind in Stadt und Dorf allgegenwärtig. Nicht vergessen werden darf die Orthodoxe Kirche Rumäniens, die auch im Landesteil Siebenbürgen unter allen christlichen Konfessionen rural wie urban zahlenmäßig am stärksten vertreten ist. Eine Abweichung von diesem Größenverhältnis weisen lediglich die Verwaltungskreise Harghita und Covasna im Südosten Siebenbürgens auf, wo vergleichsweise häufig Ungarisch gesprochen wird, demzufolge also die Gläubigen der reformierten und katholischen Kirchen in einigen Ortschaften die Mehrheit der Lokalbevölkerung stellen. Allerdings treibt es die hier ansässige ungarische Minderheit bis dahin, dass Gäste und Mitbürger des Landes an diesem Ort zuweilen keine Antwort erhalten, wenn sie in rumänischer Sprache um Informationen bitten. Ob am Ursprung dieses latent fremdenfeindlichen Verhaltens der ungarischen Minderheit das Nicht-Beherrschen der offiziellen Landessprache oder tatsächliche Rachegelüste chauvinistischer Färbung stehen, bildet nicht den Gegenstand dieser Erörterung.

Spätestens seit Anbeginn des 21. Jahrhunderts steht das dreisprachige und religiös ungemein polyglotte Miteinander Siebenbürgens vor der Herausforderung, einer Neugestaltung archaisch festgefahrener Schnittmengen zwischen einzelnen Muttersprachen und bestimmten christlich-konfessionellen Ausrichtungen grünes Licht zu geben. Wie in fast keinem anderen Gebiet auf der geopolitischen Landkarte des alten Kontinents hat die europaweit hoch gehandelte Ökumene in Siebenbürgen eine weltliche, zivile und somit sozialpolitische Konnotation, die in direktem Verhältnis zur weiteren Anbindung gesamt Rumäniens an die immaterielle Wertegemeinschaft der EU steht.

Samstag, 24. März 2018. In Großstädten wie beispielsweise Temeswar (Timișoara) und Hermannstadt (Sibiu) nehmen tausende Bürgerinnen und Bürger sämtlicher Altersstufen an legitimen und friedlichen Demonstrationszügen unter der Bezeichnung „Marșul pentru viață“ teil. Eine literarische Übersetzung, die dem Inhalt dieser Überschrift in mehrfacher Hinsicht Rechnung trägt, könnte etwa so lauten: „Dem Leben auf die Sprünge helfen“.

Und wie hilft der zivile Durchschnitt der erwähnten Demonstrationszüge dem gesellschaftlichen Leben in Rumänien auf die Sprünge? Mit kontroversen Schlagwörtern wie Homosexualität und Abtreibung. Letztere ist Kerngegenstand der Zivilkundgebungen in Temeswar und Hermannstadt.

Auf der einen Seite steht das schwerkranke und von Korruption durchzogene Gesundheitswesen Rumäniens, das sich nicht als phantasievolles Gedankengebilde, sondern im wirklichen Leben als eine aktuelle und höchst zutreffende Tatsache offenbart. Zurzeit ist im staatlichen Gesundheitswesen Rumäniens die Möglichkeit guter medizinischer Behandlung schwieriger chronischer Krankheitsbilder nicht ausreichend gegeben. Wer eine kostenaufwändige Langzeitbehandlung benötigt oder gar für das eigene Kind in Anspruch nehmen muss, steht vor der Bewältigung einer unfassbaren Geduldsprobe.

Worüber man ebenfalls nicht mehr zu debattieren braucht, ist die konsequent anti-europäische Handlungsweise der Sozialdemokratischen Partei Rumäniens (PSD), die seit Dezember 2016 mit alleiniger Regierungsmehrheit von Bukarest aus gezielte Schritte unternimmt, um die Unabhängigkeit der heimischen Justizorgane zu untergraben und strafrechtlich verurteilte Führungsbeamte durch Gesetzesdekrete zu schützen, die auch im Falle hoher Straftatbestände jede juristische Immunität nicht infrage stellen.

Fragwürdig erscheint unter diesen Umständen die zivilrechtliche Ausrichtung der Orthodoxen Kirche Rumäniens, die zugleich landesweite Mehrheitskirche ist. Auf Hermannstädter Ebene waren es gemeinnützige Vereine seitens des regionalen Bistums der Orthodoxen Kirche, die sich in der Rolle kirchlicher Vertreterorganisationen an den Demonstrationszügen „Dem Leben auf die Sprünge helfen“ beteiligten. Fünfzehn kirchliche und weltliche Vereine in Hermannstadt bekannten sich am Samstag, dem 24. März, öffentlich zur Ablehnung der Abtreibung. Und gewiss hatten die meisten der Zivildemonstranten es ehrlich gemeint mit dem ideellen Verzicht auf Schwangerschaftsabbruch, was allzu menschlich erscheint. Moralisch mitgetragen wurden die lokalen Demonstrationszüge auch von den reformierten, römisch-katholischen und griechisch-katholischen Kirchen Hermannstadts, während sich Priester und Mitglieder der freikirchlichen Glaubensgemeinschaften als eifrige Wortführer der zivilen Kundgebung gegen Abtreibung hervortaten.

Interessanterweise war es die evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses, die sich als einzige christliche Konfession nicht an den öffentlichen Demonstrationszügen in Hermannstadt beteiligte. Bei nüchterner Betrachtung sollte allerdings die Nicht-Teilnahme einer bestimmten christlichen Kirchengemeinde an zivilen Prozessionen weder dazu herhalten müssen, ein schlechtes Licht auf die Kirchen der anderen Konfessionen zu werfen, noch die eigene Kirchengemeinde im übersättigten Licht erstrahlen zu lassen.

Vielleicht war es, angesichts der aktuell hohen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien, auch eine kluge Entscheidung seitens des lokalen evangelischen Stadtpfarramtes, den Demonstrationszug ziviler Motivation in Sachen Abtreibung nicht zu unterstützen. Stadtpfarrer Kilian Dörr bestätigt, Gesundheitsvorsorge, zivile Entscheidungsfreiheit und geistliche Seelsorge nicht miteinander vermengt sehen zu wollen: „Es ist wichtig, über diese Fragen zu sprechen. Und die Betroffenen mit einbeziehen, wobei ihre sozialen Umstände besonders zu beachten sind. Eine Debatte dieser Art sollte keinesfalls für kirchenpolitische Zwecke missbraucht werden.“

Bei maximaler Auslotung aller gedanklichen Kommunikationsbahnen, die sich zwischen den lokalen Demonstrationszügen „Dem Leben auf die Sprünge helfen“ und der politisch fraglichen Ausrichtung Rumäniens spannen können, muss ein kritisches Sich-Selbst-Hinterfragen verantwortungsbewusste Menschen dazu nötigen, sich von Prozessionen zivilrechtlichen Inhalts, die von kirchlichen Vereinen latent apokalyptisch inszeniert werden, deutlich zu distanzieren.

Dass die junge Zivilgesellschaft Rumäniens die immateriellen Werte der EU mag, steht außer Zweifel. Und genau deshalb sollte sie sich auch darüber im Klaren sein, dass die öffentliche Erörterung polarisierender Fragen des Zivilrechts nicht in den finalen Entscheidungsbereich der Kirchen und deren Würdenträger zu fallen hat. Die Entscheidung, persönlich für oder gegen Abtreibung zu sein, bleibt eine persönliche Angelegenheit. Sie zur Staatsangelegenheit und kirchlichen Frage gleichzeitig zu erheben, brächte Rumänien das Abdriften vom Freiheit garantierenden EU-Kurs ein. Es liegt an den Bürgerinnen und Bürgern Rumäniens, fortschrittlich, sprich: europäisch zu urteilen und sich nicht von restriktiven Ideologien kirchlicher Meinungsmache vereinnahmen zu lassen.

Quellen (Stand 09.September 2018):

http://www.bisericabaptistasion.ro/articole/art/87...

Homepage der Christlich-Baptistischen Zionskirche Hermannstadt. Der Link in rumänischer Sprache beinhaltet Bildmaterialien und eine Aufzählung aller fünfzehn kirchlichen und weltlichen Organisationen, die sich aktiv an dem lokalen Demonstrationszug beteiligt haben.

https://rodiagnusdei.wordpress.com/2018/03/24/foto-video-marsul-pentru-viata-sibiu-declaratie-manifest-24-martie-2018/

Christlicher Bildungs- und Informationsblog in rumänischer und englischer Sprache mit inhaltlicher Tendenz Richtung Neubekehrung. Der Link enthält Fotos und Video-Aufnahmen von dem lokalen Hermannstädter Demonstrationszug am 24. März 2018, ein schriftliches Manifest rechtskonservativer Prägung (unwiderrufliches Verbot der Homosexualität durch einschlägige Verankerung in der Verfassung Rumäniens), sowie eine Aufzählung namhafter Geistlicher unterschiedlicher christlicher Konfessionen, Intellektueller, Literaten, Ärzte, Juristen, Lehrerpersonals und Sozialbeauftragter, die als Unterzeichner des einschlägigen Manifests geführt werden.

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