30.09.2014 von Valeria Nikolova-Zlatkova, Bulgarien

Wahlen in Zeiten der Cholera

Eine zwei Meter hohe Flutwelle, Straßen wie Flüsse, weggeschwemmte Autos als wären es Kinderspielzeuge, etwa 30 Menschen ums Leben gekommen, darunter auch Kinder. Das ist nicht eine Szene aus einem Steven Spielberg-Film. Das passierte in der Realität in diesem Sommer in Bulgarien, dem ärmsten Staat in der Europäischen Union. Einige nennen es die Rache der Natur. Die anderen die Folgen der schlechten Regierungsführung. Die Antwort auf die Frage warum bleibt indes unbeantwortet. Bisher.

Das Thema ist aktuell wie nie. Die Parlamentswahlen sind ganz nah und die Politiker werden sie für sich nutzen. Die Wahlberechtigten aber fragen sich immer noch, warum sie am 5. Oktober 2014 wählen gehen sollen, wie der bulgarische Interims-Premierminister Georgi Bliznaschki aufgerufen hat.

Hunderte haben alles verloren – ihr Haus sowie ihr ganzes Hab und Gut. Besonders von der Fluttragödie betroffen: Varna, Dobritsch, Mizija und Burgas, wo die Hausbesitzer bei Flutschäden von Staat und Versicherungen im Stich gelassen wurden. Die Hoffnung auf finanzielle Hilfe beruht auf dem EU-Solidaritätsfonds, der nach der letzten Flutkatastrophe 2002 gegründet wurde, um im Falle von großen Naturkatastrophen solidarische Hilfe leisten zu können. Nach ersten Expertenschätzungen braucht Bulgarien rund 7,5 Millionen Euro, um die Infrastruktur wieder aufzubauen, und das nur nach der ersten Flut in Varna. Was die neuen Überschwemmungsgebiete angeht, ist die Rechnung noch nicht fertig. Zwei Monate ist es schon her. Sind die Flut-Betroffenen in Vergessenheit geraten? Und wird die Fluttragödie die Wahlergebnisse beeinflussen? Und ist tatsächlich nur die Laune der Natur für die sich häufenden Kataklysmen verantwortlich?

Das Nationale Institut für Meteorologie und Hydrologie der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften (BAN) hat vor der Flut-Katastrophe gewarnt. Trotzdem hat das Hochwasser die Gemeinden überrascht und dann war es schon zu spät, Präventivmaßnahmen zu ergreifen.

An solch heftige Regengüsse erinnern sich die alten Leute eigentlich nicht. Der 77-jährige Bai Dancho aus Misija ist nicht böse auf die Regierung. Die Natur ist daran schuld, sagte er, nachdem er alles verloren hatte: das Haus, seine Tiere. Er hat zwölf Stunden mit seiner Ehefrau auf Hilfe gewartet, sitzend auf einem Stuhl, der auf einem Tisch stand, berichtete der Bulgarische Nationalfunk. Heutzutage weint er wie ein Kind, wenn er sich an die kleine weiße Ziege erinnert, für die es keinen Platz auf dem Rettungsboot gab. Sein neues Heim ist jetzt eine alte Schule, die für die Flutopfer vorgesehen wurde.

Währenddessen, schon im Wahlkampf, bemühen sich die Politiker aus den verschiedenen Parteien mit Spenden und Hilfsleistungen als patriotische Retter in der Not zu profilieren. In Burgas hat der Chef der GERB-Partei (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) Bojko Borissov alle 470 Parlamentskandidaten seiner Partei in Gummistiefeln zum Großreinemachen in die überfluteten Katastrophengebiete geschickt. Eine besondere Form der politischen PR oder aufrichtige Hilfe für die Hochwasseropfer? Das ist vielleicht für Bai Dancho nicht so wichtig. Er hat durch die Flut sowieso alles verloren, was er in seinem ganzen Leben bekommen hat, all seine Lebenserinnerungen, in einem Augenblick verloren. Die junge Generation ist nicht so geduldig wie die Eltern und Großeltern es bereits 25 Jahre lang gewesen waren. Es gibt einen Plan B – auf die Heimat zu verzichten.

Wird die Naturtragödie den Ruf nach einem politischen Neuanfang mit unbelasteten Politikern stärker machen? Oder wird Bulgarien in Hochwasser und politischer Aussichtslosigkeit versinken, wie die deutschen Medien berichteten?

Das werden wir am 6. Oktober früh morgens wissen.
"

Verwandte Beiträge

2024 Bulgarien Bulgarien: Märchen mit offenem Ende 2018 Bulgarien Bulgarien – der „behinderte“ Staat, der die bulgarischen Mütter verdrängt (hat) 2017 Bulgarien Bulgarien 10 Jahre nach dem EU-Beitritt - keine Bilanz, nur eine kurze Geschichte 2015 Bulgarien Zukunftsskeptizismus oder Wunder von Bulgarien 2014 Albanien Der Besuch von Papst Franziskus im „Land der Märtyrer“ 2014 Belarus Die differenzierte Europa-Integration von Belarus 2014 Bulgarien Wahlen in Zeiten der Cholera 2014 Georgien Das politische System und die wichtigen politischen Fragen in Georgien 2014 Kroatien Öl und Gas in der Adria – Ob Kroatien das neue Norwegen wird? 2014 Lettland Wohnsitz in Lettland, mit dem Herzen in Russland. Wie die Ukraine-Krise die Bevölkerung in Lettland spaltet 2014 Moldau Republik Moldau: Populismus vor den Wahlen 2014 Mongolei Die Mongolei leidet unter der Wirtschaftskrise 2014 Polen Der lange Schatten der Geschichte – Eine lebendige Angst vor dem Krieg in Polen 2014 Russische Föderation Ministerium ohne Kultur: Wie die Zensur in der russischen Filmkunst funktioniert 2014 Tschechische Republik Kauf der tschechischen Medien durch Oligarchen 2014 Ukraine Die Geschichte und die Medien: Wie ein altes Ehepaar 2014 Ungarn Nicht getrennt, sondern zusammen 2013 Bulgarien Die Proteste in Bulgarien 2012 Bulgarien Die Geburt der Zivilgesellschaft in Bulgarien nach 22 Jahren des Wartens 2011 Bulgarien Die Gesundheitsreform in Bulgarien – Ein Krieg der Nerven 2010 Bulgarien Bulgarien – 20 Jahre (keine) Wende 2009 Bulgarien Eine Stimme für die Zukunft - Die populistischen Parteien in Bulgarien sind im Aufwind, man kann aber trotzdem Grün wählen 2008 Bulgarien Die aktuelle politische Situation in Bulgarien 2007 Bulgarien Grüne Männlein in Bulgarien – die Umweltschutzbewegung zwischen Politik und Ökologie 2005 Bulgarien Freier Informationszugang – An der Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit 2005 Bulgarien Ataka und die Wiedergeburt des bulgarischen Nationalismus 2004 Bulgarien Bulgarien feiert die Meinungsfreiheit: Der Leser als Kunde und König? 2003 Bulgarien Unter dem Vorwand einer "Europäisierung" der Mediengesetzgebung versucht die Politik die öffentlich-rechtlichen Sender Bulgariens stärker unter Kontrolle zu bringen