14.10.2015 von Rayna Ivanova Ph.D., Bulgarien

Zukunftsskeptizismus oder Wunder von Bulgarien

„Meine liebe Heimat, du bist das Paradies auf Erden.\
Deine Schönheit, deine Prächtigkeit haben doch kein Ende“.

Mit diesen Worten wird meine Heimat Bulgarien in der Nationhymne beschrieben. Die Herrlichkeit von meinem Land wird auch von vielen bulgarischen Schriftstellern gelobt. Und so ist es. Meine Heimat Bulgarien hat eine wunderschöne Natur, eine reiche Geschichte, merkwürdige Sehenswürdigkeiten und Denkmäler, atemberaubende Berge und Meeresküste, ein angenehmes Klima und eine gute geografische Lage. Das alles gibt es in Bulgarien.

Doch es gibt auch Korruption, Kriminalität, Mafia, Schmuggel, Fälschung, Drogen- und Menschenhandel, Geldwäsche, eine hohe Mortalität, eine niedrige Geburtenrate, hohe Preise und niedrige Löhne, große Arbeitslosigkeit und Armut, schlechte Sozialpolitik, ein nicht gut funktionierendes Krankenversicherung- und Rentensystem, einen niedrigen Lebensstandard. Das alles wird von vielen Bulgaren als Völkermord bezeichnet.

Dazu herrscht in Bulgarien noch ein sehr gut entwickeltes Beziehungs- und Seilschaftssystem und zwar in allen Bereichen des Lebens – in der Politik, in der Verwaltung, in der Wirtschaft, in der Ausbildung, in der Kultur etc., weil es in Bulgarien keine Lustration gab und somit die politisch belasteten und mit dem alten Regime verbundenen Figuren vom öffentlichen Dienst nicht entfernt wurden. Das Schlimmste von allem ist jedoch der Mangel an Gerechtigkeit, Ordnung und Gesetzlichkeit. Die Justiz ist nicht unabhängig, wie sie es sein sollte. Gesetze und Regeln existieren mehr auf dem Papier und gelten meist nur für die gewöhnlichen Menschen. Das Prinzip „alle sind gleich, aber manche sind gleicher als die anderen“ passt genau zur Realität in Bulgarien. In Kürze soll es keine echte Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien mehr geben. Reformen und Gesetzgebung sind oberflächlich und oft fiktiv. Gesetze in Bulgarien werden meistens zum Schaden der Bürger und zum Nutzen der Regierenden gemacht. Ein einfaches Beispiel vom Alltag in Bulgarien zeigt wie weit das gehen kann.

In den letzten Jahren wurden zwei Mal Veränderungen im Gesetz für die Schulausbildung vorgeschlagen, mit denen erreicht wurde, dass die Verbrechen des Kommunismus in der Schule unterrichtet werden und diese Themen in den Lehrbüchern für Geschichte erfasst werden. Doch beide Male wurden im Parlament die Veränderungen nicht angenommen, obwohl laut einer Studie bekannt geworden ist, dass die Kinder, die in den Jahren der Wende in Bulgarien zur Welt kamen, vom Sozialismus und Kalten Krieg fast nichts wissen. Die heutigen Schüler haben keine Ahnung, dass im Kommunismus in Bulgarien die Blüte der Nation totgeschlagen wurde, dass Schriftsteller, Journalisten, Lehrer, Geistliche ohne Gericht und Urteil umgebracht wurden, dass viele für das Regime unbequeme Menschen in Lager geschickt wurden, dass ihre Familien verfolgt und in die Provinz vertrieben wurden, dass ihr ganzes Eigentum verstaatlicht wurde. Die zukünftigen Generationen werden auch davon nichts erfahren, zumindest nicht in der Schule.

Aber die Jugendlichen haben ein Recht darauf die Wahrheit zu erfahren und informiert zu werden – wie es vorher war und wie es jetzt ist. Die Lektion der Geschichte muss gelernt werden, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich Bulgarien auf dem achten Platz in Europa in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung. Während des kommunistischen Regimes gab es in Bulgarien einen dauerhaften Untergang. Am Ende der sozialistischen Periode, die zum völligem Zusammenbruch der Wirtschaft, nicht nur in Bulgarien, sondern auch in den anderen sozialistischen Ländern führte, war meine Heimat, und immer noch ist sie der ärmste Staat in Europa und ist heute auf dem letzten Platz unter den EU-Mitgliedsländern. Es ist das bittere Erbe und die schwere Last des Kommunismus.

Die tiefen Wunden dieses totalitären Regimes können nicht auf einmal geheilt werden, alle Schäden des Kommunismus können nicht gleich überwältigt werden, es kann sich nicht alles über Nacht verändern. Das weiss ich, aber wenn damals, also zu Beginn der Wende in Bulgarien, zumindest das Ausbildungssystem verändert worden wäre, würden jetzt die damaligen Kinder und Jugendlichen gut ausgebildete, wettbewerbsfähige, ideenvolle, innovative, demokratisch denkende und freie junge Menschen sein, die Bulgarien heute führen könnten. Stattdessen gehen viele junge Leute ins Ausland, meistens um eine bessere Ausbildung zu bekommen, weil man in Bulgarien viel Theorie aus uralten Büchern lernt, die aber nichts mit der Praxis zu tun haben. Die meisten dieser Jugendlichen können sich im Ausland verwirklichen und ein würdiges Leben führen und kehren nie wieder zurück. Sie entscheiden einfach, auch wenn egoistisch, aus dem Land zu fliehen, auszuwandern, irgendeinen – vorher den amerikanischen, jetzt immer häufiger den europäischen Traum zu verfolgen. Das erscheint ihnen leichter. Viel schwieriger ist der Kampf, auch wenn ungleich, ungerecht und deswegen fast unmöglich.

Die jungen Leute, die in Bulgarien geblieben sind, nennen sich „die verlorene Generation“, weil sie keine Chance mehr auf ein normales Leben haben, weil sie keine Zukunft haben. Sie sind an den Rand der Gesellschaft, in den Hintergrund, in die Rolle des Außenseiters gedrängt worden, und ihnen wird kein Weg gezeigt, ihre Initiativen und Ideen werden nicht gefördert und unterstützt. Sie fühlen sich sinkend in einem Strudel von Unsicherheit und Ungewissheit und gefesselt an Aussichtslosigkeit. Deswegen sind die Jugendlichen und eigenlich alle Leute in Bulgarien sehr skeptisch gegenüber den kommenden Tagen. Sie haben einfach Angst vor morgen, sogar Angst vor heute. Und das alles dauert so viele Jahre, dass die Leute in Bulgarien alle Hoffnung für Veränderung verloren haben. Nur tief im Herzen hegen sie den Glauben an Wunder, weil sie wissen, dass ihnen nur ein Wunder helfen kann.

Doch es gibt auch Licht am Horizont. In Bulgarien gibt es auch Menschen, die für ihr Land kämpfen, die sich bemühen etwas zu verändern, aber leider sind sie zu wenig und haben noch nicht genug Mitstreiter und Anhänger. Gerade diese jungen Leute in Bulgarien haben begriffen, dass sie das Wunder der Veränderung in sich selbst tragen und dass jede Änderung von ihnen beginnen soll. Und ich kann mir nur wünschen, dass die jungen Leute in Bulgarien, wie die Leipziger es vor Jahren gemacht haben und damit in die Weltgeschichte eingegangen sind, sich vereinigen und „Wir sind das Volk, wir bleiben hier“ sagen, und auch, dass das Wunder von Bulgarien wahr wird.
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